Wenn das Herz ein einsamer Jäger ist, dann ist das Hirn ein hungriges Monster. Wir vergessen allzu leicht, wie komplex und weitreichend unsere Fähigkeiten zur Speicherung und Verarbeitung riesiger Mengen an Informationen und komplexer Ideen tatsächlich sind. Das gilt umso mehr im Age of Slop. Noch bevor die sogenannte künstliche Intelligenz (nur der erste Teil dieses Begriffs trifft zu) vor etwas mehr als zwei Jahren den Mainstream erreichte, waren unsere Feeds bereits vollgestopft mit faulstem, klebrigstem Scheiß – zuckersüßes, kalorienarmes Futter für das hungrige Monster in unseren Köpfen, das nach viel mehr verlangt. Nachhaltige Ernährung sieht anders aus.
Bücher, allemal physische, bieten mehr als nur eine Flucht davor. Sie fungieren nicht nur deshalb als Gegengewichte, weil Studien darauf hinweisen, dass wir Informationen besser behalten und verarbeiten können, wenn wir sie von einem Blatt Papier ablesen. Sie stellen auch eine Alternative zum allgegenwärtigen Junkfood dar, weil sie mit größter Sorgfalt gekocht wurden; weil sie das Ergebnis echter menschlicher Arbeit und, ja, Hingabe sind, die nicht nur das hungrige Monster in unseren Köpfen füttert, sondern auch den Jäger in unseren Herzen ein wenig weniger allein fühlen lässt. Bücher sind von Menschen für Menschen und über Menschen gemacht – und verbinden uns deshalb mit der Welt, in der wir leben.
Ob es sich nun um Disco Pogos Hommage an Aphex Twin handelt, um Chroniken von Underground-Rap oder Hardcore, um eine rigorose Auseinandersetzung mit struktureller Misogynie in der Musikindustrie und einem Clusterfuck namens Spotify, um einen Blick hinter die Maske von MF Doom oder eine Reise durch die musikalischen Traditionen Louisianas: Diese zehn Musikbücher aus dem Jahr 2025 sind weit mehr als nur Deko-Elemente für den Coffee Table. Sie sind Teile der realen Welt. Sie warten darauf, dass wir aufbewahren und verarbeiten, was in ihnen steckt. Kristoffer Cornils

Das Magazin Disco Pogo würdigt Aphex Twin. Klingt irgendwie verrückt, aber: Dann blättert man sich durch 250 Seiten und weiß plötzlich viele tolle Dinge. Zum Beispiel, wie das Aphex-Twin-Logo wirklich entstanden ist. Oder warum Richard D. James mal einen Panzer gekauft hat. Und dass ihn Wolfgang Tillmans vor seiner Garage fotografieren durfte. Klingt alles noch verrückter. A Disco Pogo Tribute liest man aber wirklich gerne, stolz in der S-Bahn oder heimlich auf der Couch.

Ein unterirdischer Tunnel verbindet die Row Zero mit den Line-ups von Rock am Ring. Rike van Kleef knipst mit Billige Plätze – Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche die Lampe an, damit wir von dort unseren Weg zurück ans Tageslicht finden. Fast muss man Till Lindemann dankbar sein, eine längst überfällige Diskussion um die verschiedenen Machtgefälle und deren Missbräuche in der Musikindustrie angestoßen zu haben. Aber erst Van Kleef holt sie auf den Boden der ernüchternden Tatsachen herab. Bleibt nur, zu empfehlen, nach dem Kauf auch female:pressure etwas ins Sparschwein zu werfen.

Bis heute dominieren Sounds und Spex die öffentliche Wahrnehmung von Magazinen voll von coolem Wissen, die in den 1980er-Jahren den Zeitgeist einfingen. In diesem Jahr erinnerte nicht nur Erika Thomalla mit »Gegenwart machen. Eine Oral History des Popjournalismus« an die vielen anderen Magazine dieser Ära, aus dem Hause Compost legten Thomas Elsner und Michael Reinboth auch mit »ELASTE: 1980 – 1986« einen zweisprachigen Sammelband zu einer der heute weniger beachteten, in ihrer Zeit aber nicht minder wichtigen Publikation nach. Inklusive Interviews mit Cover-Star Andy Warhol und Kraftwerk sowie einer Compilation mit Tracks vom gleichnamigen Label.
Kristoffer Cornils
Heute ist alles Hardcore. Die Nachrichten. Die Aktien. Der Filter. Damals, ja damals, war Hardcore nur Musik. Dance Or Die ist Rotterdam, Frankfurt, 180 brüllende Kicks in der Minute. Manche nannten das Gabber. Andere Freiheit. Jedenfalls war es wichtig, dass man auf Hochplateausohlen rumstampfte. Holly Dicker schreibt die Geschichte des elektronischen Hardcore auf, beschäftigt sich mit Genre-Mutationen, der politischen Dimension und fragt: Wo waren eigentlich die Frauen? Sollte man lesen, wenn man an der Antwort interessiert ist.

Hip-Hop aus den 90s. Darüber hat man sicher noch nicht alles gesagt, oder? Ben Pedroche, inoffizieller Realkeeper, schüttelt eifrig den Kopf. Und knallt eine Oral-History bei Velocity Press hin. Auf 288 Seiten hat er mit DJ Shadow geplaudert, mit Madlib oder Aesop Rock. Viele Fotos geschossen. Und also Independent As F*** zusammengestellt. Eine Underground-Hip-Hop-Geschichte. Von 1995 bis 2005. Weil dazu ja wirklich noch nicht alles gesagt wurde. Christoph Benkeser

Das Hauptverkaufsargument von Krautrock Eruption. An Alternative History of German Underground in the 60s and 70s ist wohl, Autor Wolfgang Seidel die legendären Ton Steine Scherben mitbegründet hat. Das weckt falsche Erwartungen. »Krautrock Eruption« ist eine differenzierte, engagierte, aber stets selbstkritische Milieustudie von Subkultur. Keine Memoiren. Sobald man glaubt, das Phänomen »Krautrock« fassen zu können, fügt Seidel eine neue Betrachtungsebene ein. Hochspannend – und im deutschen Original vergriffen.
Michael Zangerl
Flyer sind Erinnerungen an die schönste Zeit des Lebens: die Jugend! Heute findet man sie, also die Flyer, nur noch in fragwürdigen Etablissements, weil: digital ist besser. Zumindest günstiger. Was der Erinnerung aber gar nicht gefällt. Das holländische Label One Eye Witness legt deshalb ein Buch auf, in dem über 400 Flyer nochmal zurückführen. Memorabilia: A Scan Through Dutch Rave Culture Vol. 1 ist ein Zeitzeugnis lokaler Szenen. Und eine schöne Sache für die gesamte Rave-Kultur. Christoph Benkeser

Als eine der mehrdimensionalsten Rap-Figuren aller Zeiten hat es MF DOOM mehr als sonst jemand verdient, Gegenstand eines 300-seitigen Buchs zu werden. Nicht zuletzt hatte sein unerwarteter Tod im Jahr 2020 dafür gesorgt, dass einige Fragen in Bezug auf verschiedene Aspekte seiner Persona aufkamen. Eben jenen Mysterien geht S.H. Fernando Jr. in diesen »Chroniken einer Hip-Hop-Ikone« auf die Spur: Wie konnte MF DOOM als fiktive Comic-Figur trotzdem so authentisch rüberkommen? Inwiefern hat sein Privatleben dabei eine Rolle gespielt? Wie stand DOOM mit der restlichen Rap-Welt in Verbindung? Riesige Empfehlung!
Lennart Brauwers
Liz Pellys Mood Machine konnte die Börsenwerte von Spotify nicht drücken, aber die minutiöse Aufarbeitung der Geschichte und der fragwürdigen Auswirkungen des Unternehmens auf die Musikindustrie, das Publikum und Musikkultur im Allgemeinen war und bleibt die definitive Streitschrift gegen das System des weltweit größten Audio-Streaming-Diensts beziehungsweise den Plattformkapitalismus im Allgemeinen. Spotify zu hassen mag zum Volkssport geworden sein, den wenigsten aber gelingt der Spagat, substanzielle Kritik mit einem gerüttelten Maß Zorn zu vereinen. Bessere Argumente für das Abo-Aus gab es nie, und ein wichtigeres Buch über das Musikgeschäft wird es in diesem Jahrzehnt nicht mehr geben.
Kristoffer Cornils
Das Kollektiv FLEE hat zuvor die Geschichte des kenianischen Benga aufgedröselt und im Anschluss eine rein für Männer vorbehaltene griechische Insel besucht. Nun widmet es sich einem Schmelztiegel namens Louisiana. Das zweisprachige Werk (Englisch/Französisch) wird von einer Vinyl-Compilation mit Zydeco- und Kreol-Songs begleitet und taucht in die Feinheiten einer der musikalisch interessantesten Regionen Nordamerikas ein, um die Einflüsse von afrikanischer, indigener, französischer und karibischer Musik darauf auszuloten. Pasé Bél Tan bedeutet »Viel Spaß«, und das mag ein paradoxer Titel für ein dezidiert wissenschaftliches Buch sein. Doch erfüllt der Titel sein Versprechen, sobald dieses wunderschön gestaltete Buch in die Hand genommen wird.
Kristoffer Cornils