»Als Gregor Samsa eines Tages aus unruhigen Träumen erwachte…« Ihr kennt die Geschichte, es ist Franz Kafkas »Die Verwandlung«. Für Elizabeth Bernholz hat sie eine ganz besondere Bedeutung »›Die Verwandlung‹ zu lesen war eine Offenbarung für mich«, erzählt die Musikerin und Multimedialkünstlerin. »Die Idee einer Flucht durch körperliche Verwandlungen sagte mir unheimlich zu.« Sie selbst verwandelte sich in Gazelle Twin, zog 2011 mit »The Entire City« viel Aufmerksamkeit auf sich und veröffentlicht jetzt mit »UNFLESH« das zweite Album des in konstanter Verwandlung begriffenen Pop-Projekts. Damals wie heute will sie ihr Gesicht nur ungern zeigen, im Interview gab sie sich dafür umso offener. Gazelle Twin ist eben kein reines Mysterium, sondern hat Methode.
Franz Kafka ist auch für Aphorismen wie »Wunsch, Indianer zu werden« bekannt. Was wünschst du mit deiner Kunst zu erreichen?
Gazelle Twin: Selbstauslöschung – in positiver Hinsicht.
Die Erzählung »In der Strafkolonie« berichtet von einer Maschine, die dem Verurteilten seinen Strafspruch in die Haut einritzt und ihn damit hinrichtet. Du hast davon gesprochen, deinem eigenen Körper gegenüber Entfremdung zu fühlen und ziehst es vor, dich wie wie im Video zum Song »Anti Body«, zu verkleiden. Versuchst du dich als weibliche Künstlerin so dem sogenannten männlichen Blick zu entziehen?
Gazelle Twin: Der männliche Blick. Ja, den gibt es immer noch. Ungewollt machen ihn sich genauso viele Frauen wie Männer zu eigen. So tief steckt er drin. Ich verspüre den starken Drang, die Verpflichtung zu umgehen, attraktiv oder sexuell verfügbar zu erscheinen. Ich sage »Verpflichtung«, weil es sehr schwierig ist, in dieser Gesellschaft aufzuwachsen, ohne sich mit solchen Erwartungen konfrontiert zu sehen. Das ist die Fallgrube dieser Welt und Musik scheint das immer noch zu transportieren. Indem ich die Elemente, die normalerweise erwartet werden – mein Gesicht, meinen Körper – verberge, kann ich jede Rolle annehmen, die ich möchte und habe die Freiheit, Ideen zu erkunden. Das geht nicht, wenn ich mein Alltagskostüm trage.
In der Parabel »Vor dem Gesetz« geht es um einen Mann vom Land, dem durch einen Türhüter der Einlass verwehrt wird und bis zu seinem Tode vor dem Tor wartet. Du hast zwar nach dem Release deines Debütalbums »The Entire City« mehrere EPs veröffentlicht, uns aber auf dein Zweitwerk lange warten lassen. Dabei wurde das unter dem Titel »I Was Moulded In The Bowels Of The Earth« für das Jahr 2012 angekündigt. Was ist mit dem Album passiert?
Gazelle Twin: Aus »I Was Moulded In The Bowels Of The Earth« wurde »UNFLESH«. Der Titel entstammt dem wundervollen iranischen Film »The House Is Black«, in dem es um Leprakranke geht. Mit der Zeit verschoben sich die Themen, weshalb der neue Titel besser zu dem pointierten Charakter der Tracks und was ich mit ihnen zum Ausdruck bringen wollte passte. Die Idee war, mir die Haut vom Leib zu reißen und mir freien Lauf zu lassen.
»Ein Bericht für eine Akademie« ist ein fiktiver Brief aus der Sicht eines Affen, der seinen Traum, den Menschen ähnlich zu werden, in die Tat umgesetzt hat, indem er ihr Verhalten studiert und imitiert hat. Du hast dich für »UNFLESH« viel mit Naturwissenschaft und Medizin befasst. Wofür hast du dich genau interessiert?»Es geht mir nicht darum, einen bestimmten Stil oder Sound zu kultivieren. Ich nutze Musik als Sprache, mit der ich verschiedene Ideen und Konzepte erkunde, weshalb sich der Sound verändert, anstatt sich einer bestimmten Ästhetik unterzuordnen, um eine Identität zu wahren.«
Gazelle Twin
Gazelle Twin: Mich faszinierten körperliche Mutationen wie etwa das Proteus-Syndrom, Polymelie oder auch interner Wachstum und Mutationen wie Tumore sowie mentale und emotionale Zustände: körperdysmorphe Störungen, Zwangsstörungen, das Pica-Syndrom und so weiter. Ich habe Museen besucht und viele Bücher gelesen, vor allem aber Bilder gesammelt und viel online recherchiert.
Noch ein langwieriger Tod: In »Ein Hungerkünstler« verweigert der Protagonist jegliche Nahrung. Seinen letzten Worten zufolge hat er nie eine Speise gefunden, die ihm geschmeckt hätte. Im Gegensatz zu »The Entire City« klingt »UNFLESH« abgespeckt, geradezu asketisch. Was veranlasste den musikalischen Wandel?
Gazelle Twin: Es geht mir nicht darum, einen bestimmten Stil oder Sound zu kultivieren. Ich nutze Musik als Sprache, mit der ich verschiedene Ideen und Konzepte erkunde, weshalb sich der Sound verändert, anstatt sich einer bestimmten Ästhetik unterzuordnen, um eine Identität zu wahren. Natürlich tendiere auch ich zu bestimmten Eigenschaften, Gewohnheiten, Techniken und Sounds, die dermaßen in mir drin sind, dass ich mich nur schwer von ihnen lösen kann. Trotzdem versuche ich bewusst, die Dinge gehörig durchzurütteln. Es muss sich schon nach Abenteuer anfühlen, damit ich mich mit etwas Unerwartetem belohnen kann. Ansonsten wäre es nur ein Job.
In Franz Kafkas nie abgeschicktem »Brief an den Vater« konfrontiert der junge Franz den alten Hermann mit dessen herrischem Verhalten. »UNFLESH« ist ein Racheakt an deinen Gegnern Rache. Wer sind die und wie fiel deine Rache aus?
Gazelle Twin: Da gibt es einige… Nicht unbedingt Menschen. Eher Erinnerungen, Gefühle oder sogar Aspekte meiner Charakters. Zu so vielen Gelegenheiten fühlen wir uns dem Leben, Menschen, sozialen Strukturen, uns selbst, Krankheiten und so weiter gegenüber ohnmächtig. Die Rache besteht darin, darüber Kontrolle zu erlangen und Macht auszuüben. Dann wird es häufig aggressiv und wild. Mir aber ist es wichtig, mich von diesen Begierden in einer Art zu reinigen, die mir selbst und hoffentlich auch anderen nützt.
Hätte es Max Brod nicht gegeben, wäre Franz Kafkas literarisches Vermächtnis dem Feuer übergeben worden. Der nämlich weigerte sich, wie im Testament seines besten Freundes gefordert, sein Werk zu verbrennen. Welches Erbe würdest du gerne hinterlassen?
Gazelle Twin: Ich weiß gar nicht, wie ich zu dem Gedanken eines Erbes stehe… Alles, was ich mache, ist digital, es existiert auf Servern und Computern und nur wenigen physischen Spuren seines Daseins. Es könnte sich eines Tages in nichts auflösen… Was total okay wäre! Mir geht es vor allem um den Schaffensprozess, der mich durchs Leben bringt. Er erlaubt mir, so viel zu lernen und meine Erfahrungen dieser Welt als Mensch mit einer gehörigen emotionalen last und kreativen Ambitionen im 21. Jahrhundert zum Ausdruck zu bringen.
*Weiterlesen: Unser Autor Kristoffer Cornils hatte in seinem letzten Interview mit Lone über die Rekonstruktionen von Träumen gesprochen.