Es gibt da dieses unheimliche Gefühl, die mehr oder minder pathologische Überzeugung, dass etwas, das es nicht gibt, eigentlich doch da sein müsste. Just diese Empfindung beschreibt der medizinische Fachterminus »phantom limb«, im Deutschen vorrangig als »Phantomschmerz« bekannt, die vor allem nach Amputationen von Gliedmaßen auftritt. Als James Vella in einem Artikel des Neurowissenschaftlers Vilayanur Subramanian Ramachandran auf den Begriff stieß, wusste er sofort, dass er den passenden Namen für sein neues Projekt gefunden hatte. »Ich habe lange Zeit für große Labels gearbeitet und darüber viel über die Mechanismen von Musikveröffentlichung in solchen Größenordnungen gelernt, mich in dieser Zeit aber eigentlich ausschließlich nach den Wünschen anderer gerichtet«, erklärt er. »Nachdem ich also einige Jahre im Indie-Bereich gearbeitet hatte, bestand meine Motivation darin, endlich meine eigene Vision zu verwirklichen.« Und so gründete er im Jahr 2017 Phantom Limb aus dem Wunsch heraus, etwas zu schaffen, das dem Gefühl zufolge da sein sollte und es doch nicht war.
Vella ist seit langem als Musiker aktiv, hat mit seinem Solo-Projekt A Lily sowie als Mitglied der legendären Post-Rock-Band Yndi Halda eine Vielzahl von Alben veröffentlicht, aber vor der Gründung von Phantom Limb auch als A&R für den Indie-Riesen FatCat gearbeitet. Schon früh schlossen sich ihm andere an, die noch mehr wertvolle Erfahrungswerte aus der Musikbranche mitbrachten: Ken Li, der unter anderem bei Thrill Jockey für die Pressearbeit zuständig gewesen war, und George Clift, Betreiber des Plattenladens Hot Salvation in der Label-Heimatstadt, vervollständigten bald das Kollektiv, das von Booker Andy Halliday und seinem Team ebenso wie von dem ehemaligen Mute-Mitarbeiter Dean Wengrow erweitert wurde, der sich seitdem um das neu gegründete, an Phantom Limb angeschlossene Label-Management Five Worlds kümmert.
Es machte das, was neu gegründete Indie-Labels immer zu tun pflegen: einen ganzen Haufen Fehler.
Mit diesen vielseitigen Erfahrungswerten und »dicken Adressbüchern«, wie Vella frotzelt, machte sich das junge Team von Phantom Limb an die Arbeit. Es machte das, was neu gegründete Indie-Labels immer zu tun pflegen: einen ganzen Haufen Fehler. »Lange Zeit hatten wir keine einzige Veröffentlichung ohne irgendwo einen Makel – ein falsch geschriebener Titel, ein unscharfes Design-Element, sogar ein ganzer Song, der auf einer Platte fehlte«, lacht Vella. Die Wachstumsschmerzen von Phantom Limb wurden jedoch schnell gelindert. Zu den frühen Veröffentlichungen gehörten Alben von New Optimism, ein Nebenprojekt der Cibo-Matto-Sängerin Miho Hatori, des bristolischen Duos Hirola und der isländischen Theremin-Virtuosin Hekla Magnúsdóttir. Ab dem Jahr 2019 dann gewann das Label zunehmend an Fahrt, brachte noch regelmäßiger neue Veröffentlichungen heraus und diversifizierte seinen Roster noch weiter.
Bald begannen Komponisten wie Dylan Henner oder Richard Skelton sich mit ihren sehr unterschiedlichen, zeitgenössischern Interpretationen von Minimal Music mit der bassgetriebenen Post-Everything-Dub-Clubmusik von WaqWaq Kingdom oder Kooperationen zwischen der in Uganda ansässigen Nyege-Nyege-Rapperin MC Yallah und dem Techno-Produzenten Eomac die Klinke in die Hand zu drücken. Gleichzeitig begann Phantom Limb mit der Einführung neuer Sublabels wie dem auf Ambient fokussierten Digital-Only-Imprint Spirituals, dem auf Soundtracks und Rescores spezialisierten Geist im Kino sowie einer Reihe von Vinyl-Reissues und Werkschauen für unkonventionelle und übersehene Musik des späten 20. Jahrhunderts dem eigenen Schaffen noch weitere Facetten hinzuzufügen. »Wir beschreiben unseren Roster gerne als Mosaik«, sagt Vella. »Das große Ganze wird durch eine Vielzahl von Farben, Schattierungen und Formen gebildet.«
Allesfresser mit Ausdruckskraft
Diese Pluralität der Phantom Limbschen Klangästhetik repräsentiert zum einen die stilistische Bandbreite der jeweiligen individuellen Plattensammlungen – als »Allesfresser« bezeichnet Vella die Teammitglieder. Zugleich besteht zum anderen eine Art roter Faden in dem, was der Labelgründer als »Ausdruckskraft« bezeichnet. Als Begriff umschließt quasi alles angefangen mit sanften Ambientklängen über Noise, Pop-inspirierte Experimentalmusik bis hin zu Hip-Hop oder Industrial Metal. »Wir erwarten natürlich nicht, dass Fans von Richard Skelton genauso gerne zu WaqWaq Kingdom tanzen, oder dass Fans von Infinity Knives und Brian Ennals zugleich zu Ami Dang meditieren. Wir hoffen aber, dass in all ihrer Musik unsere Leidenschaft durchscheint.«
Wer den Katalog von Phantom Limb und den jeweiligen Sublabels durchstöbert, wird dementsprechend eine Überraschung nach der anderen erleben. Hier vertont Kevin Richard Martin alias The Bug den Soundtrack des bahnbrechenden Tarkowski-Films »Solaris« neu, dort findet sich ein Album der Electronica-Überfliegerin Loraine James und dazwischen passt noch ein Score für einen maltesischen Indie-Film, den Jon Natchez von The War On Drugs komponiert hat. Auffällig ist auch: Einige Namen tauchen immer wieder auf. Das ist ein Ausdruck für das klare für das Bestreben des Labels, nachhaltige Bindungen zu seinen Künstler:innen aufzubauen. »Unser Anspruch ist es, ihnen eine respektvolle und verständnisvolle Beziehung bieten zu können«, kommentiert Vella das. »Wir arbeiten ausschließlich mit Menschen zusammen, die wir lieben, den talentiertesten Musiker:innen, die wir finden können. Und wir glauben, dass der künstlerische Hintergrund unser Mitarbeiter dem zuträglich ist.«
Eine Architektur für das Unmögliche
Dieser »for musicians by musicians«-Ansatz erstreckt eine Vielzahl weiterer Dienstleistungen, die Phantom Limb den Künstler:innen anbietet. Das Label fungiert zugleich als Verlag und kümmert sich für sie um Tourneen sowie sogar den Vertrieb. Vella beschreibt diesen Ansatz seines Unternehmens als einen inhärent ganzheitlichen. »Wir arbeiten oft mit Künstler:innen zusammen, die vorher noch nie Verlagsdeals oder auch nur eine Booking-Agentur hatten. Wir glauben, dass es wichtig ist, dass jemand diese Rechte umfassend vertritt«, erklärt er in Bezug auf sein Team, das dem Label-Roster dabei behilflich ist, sich in der komplexen Welt der Synchronlizenzierung ebenso zurecht zu finden wie rechtliche oder finanzielle Hürden zu überwinden.
Das nahezu allumfassende Dienstleistungsangebot von Phantom Limb und das weitreichende Netzwerk, das Vella und sein Team in nur rund sechs Jahren aufgebaut haben, sind zweifellos beeindruckend. Zugleich zeugen sie von einem Wandel, den die Welt der Indie-Labels in den vergangenen Jahren durchlaufen hat. Waren Indie-Labels jahrzehntelang in erster Linie Gatekeeper und Tastemaker, wird ihre kulturelle Relevanz mittlerweile ebenso angezweifelt wie ihr allgemeiner Nutzen. »Ich bewundere Künstler:innen, die es auf eigene Faust schaffen, und ich habe ein paar gesehen, denen das ohne Label gelungen ist«, sagt Vella. »Aber ich habe dennoch das Gefühl, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt. Ein Label stellt das Fundament für das dar, was ganz allein nur sehr schwer oder vielleicht überhaupt nicht zu schaffen ist.« Mit anderen Worten: Etwas, das dem Gefühl nach eigentlich immer da sein sollte, obwohl es das oftmals nicht ist. Phantom Limb aber ist nun gekommen, um zu bleiben.