Label Watch: STROOM

09.02.2023
Seit über sechs Jahren ist STROOM eine sichere Bank für … ja, was eigentlich genau? Ziggy Devriendt alias Nosedrip und sein Team treffen zwischen Achtziger-Reissues und Trance-Neuauflagen, Dancefloor und Esoterik wagemutige und unerwartete Entscheidungen.


Wo nichts passiert, da bietet sich auch Raum für Möglichkeiten. Es braucht nur jemanden, der die Dinge ins Rollen bringt. Ziggy Devriendt ist für das verschlafene belgische Küstenstädtchen Ostende genau dieser Menschen geworden – allerdings erst über Umwege. Als er dort aufwächst, sind die kulturell aufregenden Zeiten der Stadt – Marvin Gaye hatte dort Anfang der 1980er Jahre »Sexual Healing« geschrieben – schon längst passé. Es bleibt das Skateboard, ein paar Kumpels und dann oder wann funkt das Staatsfernsehen etwas Interessantes herüber. Dizzee Rascals »Boy In Da Corner« zum Beispiel, das erste Album, das er sich kauft. Es ist sein Einstieg in die Welt des Hip-Hop.

In die taucht Devriendt in Gent noch intensiver ein. Eine knappe Autostunde trennen seine alte und seine neue Heimat, doch der Unterschied könnte kaum größer sein. Dort floriert die Szene, er findet Kontakte in der Community und sogar einen Job im Plattenladen Music Mania. In dieser Zeit verschieben sich auch seine musikalischen Prioritäten. »Der Consciousness-Kram, die ständigen Predigten haben mich irgendwann gelangweilt«, erzählt er von seiner Abkehr vom Rap. »Aber eines Tages wachte ich auf und es war, als ob sich mein Kopf geöffnet hätte: Plötzlich interessierte mich alles.« Wohin mit dem Entdeckerdrang?

Belgische Geschichten für die Welt

Na klar, zurück in die Einöde: Der mittlerweile auch unter dem Pseudonym Nosedrip aktive DJ zieht in seine Geburtsstadt zurück, im Gepäck ein paar besonders schräge Platten belgischer Machart und ein Kopf voller Ideen, was sich im Möglichkeitsraum Ostende so alles anstellen ließe. Im Jahr 2015 geht stroom.tv online, ein Radio mit ungewöhnlichem, weil audiovisuellem Ansatz. Der Sender füllt eine Lücke im Norden Belgiens und knüpft gleichzeitig an das blühende Netz der Community-Webradios an.

Diese Verschränkung von lokaler Verwurzelung und internationaler Ausrichtung setzt sich auch bei STROOM fort. Das Label startet im Herbst 2016 mit der Wiederveröffentlichung von Alain Pierres Soundtrack zu »Jan Zonder Vrees«, dem ersten flämischen Animationsfilm. Es folgt eine Compilation, die Devriendts Vorbild Alain Neffe gewidmet ist, einem hyperaktiven Multiinstrumentalisten, der unter anderem bei Bene Gesserit spielte. Devriendt betont, dass es ihm nicht darum geht, möglichst obskure Platten wiederzuveröffentlichen.

»Eines Tages wachte ich auf und es war, als ob sich mein Kopf geöffnet hätte: Plötzlich interessierte mich alles..«

Ziggy Devriendt

Tatsächlich, so erzählt er, sind viele der Reissues und Compilations auf STROOM voller Musik, die in bestimmten Kreisen immer wieder neu aufgelegt wurde, diese Kreise aber nie verlassen hat. »Ich möchte der ganzen Welt belgische Geschichten erzählen«, erklärt er den klaren Fokus auf lokale Ikonen, deren Schaffen außerhalb ihres ursprünglichen Wirkungskreises in Vergessenheit geraten ist. Und deren kreative Anarchie heute noch genauso aufrührerisch ist wie damals, als sie auf einem Vierspurrekorder festgehalten wurde.

Musik wie die des frei flottierenden Kollektivs Pablo’s Eye, Siebe Baardas Projekt Cybe oder Patrick Selinger, dessen unwahrscheinlicher Smash-Hit »Businessmen« zu den Highlights des frühen STROOM-Katalogs zählt, entstand in ihrer jeweiligen Zeit losgelöst von Szenen und oft unter rudimentären Aufnahmebedingungen. Doch das Unperfekte, Schräge, Rohe ist genau das, was Devriendt in seiner Arbeit als Labelchef und A&R bis heute reizt. Natürlich auch bei Neuer Musik. »Wenn jemand auf mich zukommt, um mit mir ein Album zu machen, und ich heraushören kann, dass sie professionelle Musiker:innen sind, dann interessiert mich das nicht«, lacht er.

Kompromisslos und persönlich

So überrascht es dann auch nicht, dass STROOM zum Umschlagplatz merkwürdiger zeitgenössischer musikalischer Ansätze wird, die sich zwischen Anthologien von Benjamin Lew oder Reissues von Trance-Bangern aus den frühen Neunzigern schon gar nicht mehr so absonderlich anfühlen. Das Jam-Projekt TRJJ, der staubtrockene Poesie-Post-Punk von Dali Muru & The Polyphonic Swarm, der Brannten-Schnüre-Offshoot Freundliche Kreisel oder Merope mit ihren baltischem Fourth-World-Fantasien: Das alles passt deshalb zueinander, weil es überall sonst aneckt.

Kein Wunder also, dass STROOM zum Umschlagplatz für seltsame zeitgenössische Musikansätze wird, die zwischen den Anthologien von Benjamin Lew oder den Reissues der Trance-Banger aus den frühen Neunzigern gar nicht mehr so seltsam anmuten. Das Jam-Projekt TRJJ, der staubtrockene Poesie-Post-Punk von Dali Muru & The Polyphonic Swarm, der Brannten-Schnüre-Offshoot Freundliche Kreisel oder Merope mit ihren baltischen Fourth-World-Fantasien: Das alles passt zusammen, weil es sonst überall aneckt.

Mit STROOM hat Ziggy Devriendt eine Lücke gefüllt. Er hat dazu beigetragen, die Musikgeschichte eines sozial und subkulturell zersplitterten Landes durch die unkonventionellen Visionen seiner Außenseiter:innen neu zu schreiben und gleichzeitig zeitgenössische Entwicklungen in den Dialog mit der Welt zu stellen.

Inzwischen hat er sich in Athen niedergelassen, besucht aber regelmäßig seine alte Heimat. Und sieht, dass sich in der Stadt inzwischen viel getan hat und sich dank STROOM sogar immer wieder Touristen dorthin verirren. »Ostende hat mir nichts gegeben, und doch ist das Label zu einer Art Maskottchen der Stadt geworden«, erzählt er, der in der Leere die Möglichkeiten gesehen und genutzt hat.