Records Revisited: Talking Heads – Speaking In Tongues (1983)

01.06.2023
»Speaking In Tongues« ist der große Durchbruch der Talking Heads im Mainstream. Und das, obwohl oder gerade weil das Album inhaltlich keinen Sinn ergibt.

Guckt man sich diesen späten Klassiker der Talking Heads an, dann fällt gleich auf, dass man »Speaking in Tongues« immer in einem eng-gesteckten Koordinatenfeld rezipiert und mustert: Umgrenzt, vielleicht sogar dominiert, wird die LP nämlich von seinen Hits (»Burning Down The House« und »This Must Be The Place«); vom ikonischen Konzertfilm »Stop Making Sense«, der zur gleichen Zeit entstand, und vom schleichenden Ende einer Band. Also ist das Ziel diesmal über die Platte zu schreiben, OHNE im Besonderen auf diese drei Aspekte einzugehen. Klingt komisch? Klar! Macht aber dafür umso mehr Sinn bei einer Band, die sich beizeiten darin erschöpfte anders zu ticken als der Rest.

Aber mal ganz vorn vorne: »Speaking in Tongues«, also in fremden Zungen sprechen. Das darf durchaus als Lektürehilfe verstanden werden. Nicht alles, was Frontsau David Byrne hier als Priester des Hohen Tanzes von sich gibt, ergibt Sinn. Soll es auch gar nicht. Es ist wirklich erstaunlich, im Retrospekt, wie ernst man es damals mit dem Titel meinte: Lose und frei assoziierte Gedanken, die David Byrne immer wieder einwirft und raus-scattet als wär er ein Derwisch im Jazzclub. Der Text muss hier nie zu ernst genommen werden – bei welchem Talking Heads-Song wäre das überhaupt der Fall? -, kann aber immer mit der ein oder anderen Weise überraschen.

Roundheads squareheads / Get settled in / You can hear my belly rumble / There’s a voice that starts to mumble / Woo! It’s starting to sing

So kann man auch nicht wirklich eine Story ableiten, die erzählt werden soll. Dennoch stellt sich das starke Gefühl ein, dass es sich bei »Speaking In Tongues« um eine Reise durch eine Nacht geht. Eine Reise ohne Widerkehr. Um einen, der sich verliert, zerrissen zwischen Pop-Star-Dasein und den Versuchungen des Vergnügens. Hier droht jemand zu versinken und landet in einem Moloch, der sich aus Sprüchen, Gedanken und unbedachten Sätzen zusammenbaut – jeder einzelne für sich sogar sinnig, aber im Zusammenspiel ein dadaistischer Dschungel.

Aufhören Sinn zu ergeben,
anfangen zu tanzen.

Stop making sense, making sense / I got a girlfriend shes’s better than that / And nothing is better than this

Was später Titel des ominösen Konzertfilms werden sollte, taucht hier – bei einem Lied über das Pop-Star-Leben – erstmalig auf. Für Insider und solche, die es noch werden wollten, waren Talking Heads schon eine der großen Institutionen; »Speaking In Tongues« stellt dennoch den Mainstream-Durchbruch da. Da halfen nicht nur die bereits genannten Hits, sondern der insgesamt so fluffige Sound, der zwischen Art-School- und Post-Punk zu schaukeln weiß. Das Gitarrensolo von »Making Flippy Floppy« weiß vom Underground genauso viel wie von großen Rockgesten. »I Get Wild« ist die damals unumgängliche Dub-Nummer.

Es ist bemerkenswert, wie Experiment und Zeitgeist Hand in Hand gehen dürfen auf dieser LP.

Jaja, selbst wenn man von der Einzigartigkeit dieser Band weiß, es ist bemerkenswert, wie Experiment und Zeitgeist Hand in Hand gehen dürfen auf dieser LP. Aber vor allen Dingen ist es eine Platte über das Tanzen: Auf dem fünften Album zeigt sich die Band zwar genauso >partylustig<, wie schon auf dem Vorgänger »Remain In Light«, doch viel geschliffener und präziser. Angereichert und fast schon ekstatisch durch afrikanische Polyrhythmik und High-Life wie Afrobeat angetrieben ziehen die vier Talking Heads – neben Byrne sind das Tina Weymouth am Bass, Chris Frantz an den Drums und Gitarrist Jerry Harrison – über die Tanzflächen.

Wir erinnern uns an die wilden Bewegungen auf der Konzertbühne, die damals dazu gehörten. Das Ehepaar Weymouth und Frantz hatten in der Zwischenzeit längst den Tom Tom Club gegründet, ihre eigene Punk-Funk-Combo mit schimmerndem Achtziger-Glam: Etwas Neonlicht, viel Wave und noch mehr Bock. Konzerte als Tanzflächenfüller. House und Techno waren noch nicht geboren, zeichneten sich aber schon am Horizont ab. »Speaking In Tongues« – ein Ritual in Albumform, das mal wieder auf den Teller gelegt werden kann. Auch wenn man mal nicht über die fast unumgänglichen Themen Hits, Konzertfilm und drohender Zerfall redet.