Records Revisited: The Chemical Brothers – Exit Planet Dust (1995)

25.06.2025

Als 1995 kaum jemand an echte Dance-LPs glaubte, veröffentlichten die Chemical Brothers mit Exit Planet Dust ein kompromissloses Album: roh, laut, ein Big-Beat-Blueprint. Und zugleich die Erzählung der wöchentlich ravenden Jugend.

1995 drehte sich die (nicht nur) englische Dance-Musikwelt noch als 12inch. Es gab nur wenige Künstler*innen in der wirbelnden Schnittmenge zwischen Warehouse-Rave und Club-Techno, die ein echtes Album veröffentlicht hatten – eines, das nicht wie eine Compilation von Singles wirkte. Orbital gingen diesen Weg seit mehreren Alben, erhielten von der Szene aber wegen ihres Major-Vertrags die kalte Schulter. The Prodigy hatten sich gerade erst mit Music for the Jilted Generation etabliert. Leftfield lugten mit Leftism vom Rand her ins Getümmel, wurden aber auch schnell wieder vergessen.

Dance Music galt – von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen – als temporärer Gebrauchsartikel. Heute riss ein Track die Clubs ein, nächste Woche wurde er schon wieder vom nächsten getoppt. Vor allem galt: Es gab keine Superstars. Es ging immer nur um den Track im Club. Kommerzieller Erfolg war Ausverkauf, zu wenig Straße. Das Klassen- und Szenebewusstsein Englands schlug voll zu.

Als Ed Simons und Tom Rowlands Anfang der 1990er-Jahre begannen aufzulegen und später – aus Mangel an musikalischem Material für ihre frenetischen Sets – selbst zu produzieren, hatten sie sich vermutlich auch auf diese Spielregeln der Clubwelt eingestellt. Ein Name galt nichts. Und so nannten sie sich ganz naiv nach den US-amerikanischen Produzenten-Schwergewichten The Dust Brothers, die den Beastie Boys mit Paul’s Boutique (1989) den Hintern gerettet hatten.

Die Nacht gehört dem Track

Nachdem die beiden Engländer jedoch The Prodigys »Voodoo People« völlig demontiert und zu einem verschleppten Beatsumpf umgepflügt hatten, der zwischenzeitlich sogar die A-Seite der Single krönte, war es vorbei mit dem Inkognito-Modus. Die echten Dust Brothers klagten, Simons und Rowlands nannten sich in Chemical Brothers um, veröffentlichten ihr Debütalbum Exit Planet Dust – und blickten nicht zurück. Von heute auf morgen ging es aus dem kleinen Heavenly Sunday Social Club im Londoner Albany Pub raus in die Welt und auf die Pop- und Rockfestivals wie Glastonbury.

»Ich wette, die haben alle eine geheime Kiste voller Simon & Garfunkel unter ihren Betten.«

Die Chemical Brothers kennen die Schlafzimmer von Techno-Fans

Für Simons und Rowlands war das kein Widerspruch. Sie hatten die Cliquenhaftigkeit der englischen Dance- und Clubkultur längst satt. Bereits in ihren DJ-Sets hielten sie nichts von Genre-Reinheit. Stattdessen warfen sie alles von Electronica und Techno über Hip-Hop und Electro bis Dub, Indiepop und Rock’n’Roll in einen überkochenden Topf. In einem Interview im Juni 1995 mit dem britischen Magazin Muzik erklärten sie das ganz einfach mit ihrer eigenen Liebe zu vielfältiger Musik.

»Für verschiedene Stimmungen brauchst du unterschiedliche Sounds. Wir lieben beide unterschiedlichste Musik. Warum sollten wir das verheimlichen? Und ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, dass selbst der passionierteste Techno-Head an einem Sonntagmorgen nach dem Aufwachen gleich wieder seinen Basic Channel Tune auflegt. Ich wette, die haben alle eine geheime Kiste voller Simon & Garfunkel unter ihren Betten.«

Es ist deshalb nicht weit hergeholt, wenn Tom Breihan in seiner Retrospektive 2015 Exit Planet Dust nicht zum besten Dance-Album, sondern zum besten Psychedelic-Rock-Album der 1990er kürte – und anmerkte: »Die Drums sind keine leichtfüßigen Housebeats; sie sind große, stampfende, donnernde Bomben. […] The synths don’t needle or stab; they riff.«

Von Staub zu Chemie

Die heftigen, verschleppten Beats auf Exit Planet Dust waren es auch, die später die Genrezuordnung zum Big Beat nach sich zogen – in dem ein paar Jahre später neben den Chemical Brothers nicht zuletzt Fatboy Slim, Basement Jaxx, The Prodigy und Groove Armada florieren sollten. 1995 bedeutete Big Beat jedoch noch nicht, die immer gleichen Breakbeats bis zum Erbrechen zu generischen Ohrwürmern zu verbinden. 1995 dachte noch niemand an deren Nutzung in Commercials für Cidre, Familienautos und schlechten Instantkaffee. 1995 steckten Simons und Rowlands noch fest in den Warehouse-Raves und Clubnächten Englands, in denen getrippt, geschwitzt und bis zur Erschöpfung gefeiert wurde.

Exit Planet Dust ist der Rohdiamant von Big Beat. Die Sounds sind noisig, die Beats sind schwer und ein Schlag ins Gesicht. Der erste Teil des Albums – auf Doppelvinyl passenderweise auf der LP1 gebündelt – funktioniert als treibendes DJ-Set. Die sechs Titel laufen fast ohne sichtbare Brüche ineinander, peitschen sich nach oben, bis mit der Stahlpresse der »Chemical Beats« der Dancefloor gewischt wird.

Dass Exit Planet Dust noch immer musikalisch und als Album funktioniert, liegt aber vor allem am zweiten Teil. Erst mit diesem wird es ein Album, das eine Geschichte erzählt, mit der sich anno 1995 ein Großteil der Jugend nur zu gut identifizieren konnte: die wöchentliche Erzählung der Rave-Nightouts.

Zwischen Abriss und Ausklang

In dem Interview mit Muzik beschwerte sich Ed Simons denn auch, dass bislang niemand mit einem Dance-Album herausgekommen sei, das die (britische) Kultur der frühen 1990er wirklich reflektiere: »Warum ist es einer Band wie Oasis vorbehalten auszudrücken, wie die jungen Leute heute ausgehen und sich jedes Wochenende volllaufen lassen wollen? Tom und ich sind die ganze Zeit unterwegs, in Clubs, auf Gigs. Wir leben schnell und hart. Das wollen wir mit unseren Platten verkörpern.«

Wo der erste Teil des Albums mit seinen stampfenden, verschleppten Technobeats im kontinuierlichen Mix vom verschwitzten Club prahlt, erzählt der zweite Teil vom Herunterkommen nach dem Abriss – in den Chillout-Rooms, in müde in den Sonnenaufgang rollenden Autos und in verqualmten Wohnzimmern. Das prügelnde Knarzen weicht dubbigen Abschnitten, psychedelischen Melodien und Downbeats. Nach dem Schwitzen wird ausgelüftet und abgetaucht. Mit Tim Burgess von den Charlatans und der Folk-Sängerin Beth Orton finden sogar Gesangsspuren in die stärker songorientierten Stücke.

Exit Planet Dust ist sicherlich nicht das beste Dance-Album (oder Psychedelic-Rock-Album) der 1990er. Doch mit seinen bigger-than-life Beats, der jugendlichen Rotzigkeit der Sounds und der zugleich ungemein perfekten Inszenierung und Choreographie der Stücke bleibt es eines der Originale – das auch heute noch sowohl auf der Festivalwiese als auch im heimischen Hi-Fi funktioniert.

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