Oben feiern drei Jungs auf dem Dach des Gebäudes von Capitol Records, unten schlagen die Labelchefs die Hände über den Köpfen zusammen. Es gibt wenige Tage, die wie der 29.6.1989 so eindringlich die Kluft zwischen Musikindustrie und Künstler manifestiert haben. Oben lümmeln sich die Beastie Boys zu Gumbo, Gras und Dixieland und feiern mit MTV die bevorstehende Veröffentlichung ihres zweiten Albums »Paul’s Boutique«. Einige Etagen weiter unten erkennen die Geschäftsmänner, dass sie ein paar Millionen US-Dollar für ein Album ausgegeben haben, das sie gar nicht bestellt hatten.
Im Zweifel für den Künstler
Die Zweifel der Chefs sollten sich sogar vorerst bestätigen: »Paul’s Boutique« war zwar bei den Kritikern beliebt, der Verkauf blieb jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Mit »Hey Ladies« gab das Album gerade einmal eine Single her – sie verschwand schnell im Nirwana. Es gab weder große Promotion, noch eine Stadion füllende Tour. Aus den von Adam Yauch aka MCA geplanten 15 Videos wurden vier, von denen zur Veröffentlichung nur zwei das Tageslicht sahen.
»Paul’s Boutique« war nicht das »Licensed to Ill Pt. 2«, für das sich die Strategen in den oberen Etagen auf einen Zwei-Album-Deal im Wert von $3 Millionen eingelassen hatten (was heute einem $20 Millionen-Deal entsprechen würde). Schon gar nicht war es das Hit-Album mit einem Nachfolger für die Gröl-Hymne »Fight For Your Right (To Party)«, für das man den Beastie Boys ein Jahr lang einen Vorschuss von $750.000 gewährt hatte, den sie nach allen Regeln des Hedonismus auf den Kopf zu hauen verstanden.
Was aus den drei weißen Jungs geworden wäre, hätten sie dieses Album nicht aufgenommen? Wahrscheinlich ein One Hit-Wonder.
Doch auch wenn es zehn Jahre brauchte: »Paul’s Boutique« wurde 1999 mit zwei Millionen verkauften Exemplaren Doppelplatin zertifiziert und gilt heute mehrheitlich als eines der größten, genialsten und wahnsinnigsten Hip Hop-Alben aller Zeiten. Selbst Chuck D gestand 2007 in einem Interview mit VIBE, dass es das »dreckige Geheimnis« dieses Albums sei, dass es damals »die besten Beats hatte«. Ganz zu schweigen, was aus den drei weißen Jungs geworden wäre, hätten sie dieses Album nicht aufgenommen. Wahrscheinlich genau das, was alle nach deren Frat Rap-Debüt erwartet hatten: ein One Hit Wonder.
Vom Sieg und Fluch der Freiheit
Zumindest in einem Punkt hatte Capitol Records hinzugelernt: Sie überließen das zweite Album komplett den Beastie Boys. Dass sie damit ihren eigenen Erwartungen an ein Nachfolgealbum zu »Licensed To Ill« automatisch einen Strich durch die Rechnung machten, steht auf einem anderen Papier. Das letzte, was die Beastie Boys jedoch zu diesem Zeitpunkt wollten, war einen weiteren Kontrollfreak-Produzenten wie Rick Rubin der sich entgegen der Realität als Mastermind von »Licensed To Ill« ausgegeben hatte und auch für weitere bevorstehende Projekte (die nie realisiert wurden) die totale Kontrolle angemeldet hatte.
Letztlich hätten die Chefs von Capitol Records es besser wissen müssen. Ein Abklatsch von »Licensed To Ill« stand für die Beastie Boys nie zur Debatte. Es war genau diese Erwartung, die MCA, Ad-Rock und Mike D mit ihrem alten Label Def Jam brechen ließ. Dessen CEO Russell Simmons verweigerte den Beastie Boys 1987 die Zahlung von gut $2 Millionen an Tantiemen, um von ihnen einen nahtlosen Anschluss an das Debüt zu erpressen. »Du steigst gerade aus der Achterbahn und dein Label sagt dir ›OK, hier sind die Tickets für Runde 2. Gib uns mehr vom ersten‹«, erinnert sich Mike D später in einem Interview. »Und du denkst so ›Warte mal. Mir ist schwindelig und mir ist schlecht. Ich brauche erstmal eine Pause und ein bisschen Popcorn‹«.
Dass »Paul’s Boutique ein so innovatives Album ist, verdanken wir keinem Masterplan, sondern ein paar unbekannte Musik-Geeks, einer Menge Substanzen, ausgedehnten Prokrastinations-Zyklen und 500.000 Schallplatten.
Für die drei New Yorker Rapper und ihren neuen DJ Hurricane war das Segen und Fluch zugleich. Auf der einen Seite waren sie endlich aus der Def Jam-Fessel befreit und konnten an der Westküste die Sau rauslassen. Auf der Kehrseite hatten die Beastie Boys keinen Plan, wie sie eine komplette Neuerfindung gestalten sollten. Sie waren ausgebrannt, lustlos und kämpften mit einer ausgewachsenen Schreibblockade. Wie daraus ein so extrem innovatives und verspieltes Album wie »Paul’s Boutique« werden konnte, verdanken wir keinem Masterplan, sondern ein paar unbekannte Musik-Geeks, einer Menge Substanzen, ausgedehnten Prokrastinations-Zyklen und 500.000 Schallplatten.
Effizienz ist was fürs Management
Denn »Paul’s Boutique« begann, genau genommen, nicht bei den Beastie Boys, sondern bei Mike Simpson und John King, besser bekannt als Dust Brothers, und ihrer Vorliebe, Samples zu Jenga-Türmen zu stapeln und diese in mehrstündiger Arbeit zu synchronisieren. Matt Dike, der CEO des neu gegründeten Delicious Vinyl Records hatte bei einem eher zufälligen Telefonat zwei Tracks der Dust Brothers gehört und danach nur noch hysterisch durch den Hörer geschrien. So landeten die ersten Beats der Dust Brothers auf den Alben von Tone Loc und Young MC. Außerdem waren da noch ein paar extrem komplexe Entwürfe. »Das waren diese verrückten Megamixe mit Tonnen von Samples und Scratches. Die meisten waren zu dicht, als dass noch ein Rapper darauf Platz gefunden hätte«, erinnert sich Mike Simpson. Die Beastie Boys wiederum kannten Matt Dike vor allem als Schlüssel-DJ der Underground-Szene des Los Angeles‘ der 1980er Jahre. Sie schätzten Dike dafür, dass er mit einer seltsamen Mischung aus Punk Rock, Hip Hop, Metal und Obskuritäten die Leute zum Durchdrehen brachte. Als Mike D und MCA 1988 im Apartment von Matt Dike auftauchten, um sich die besten Partys empfehlen zu lassen, ließ Dike ganz nebenbei zwei dieser Megamixe der Dust Brothers laufen: »Full Clout« und »Dust Joint« – inzwischen besser bekannt als »Shake Your Rump« und »Car Thief«.
Paul's Boutique Remastered Vinyl Edition
Für die Beastie Boys waren diese beiden Tracks die Initialzündung, wohin es gehen sollte: Eklektizismus in seinem ganzen Extrem. Und Matt Dikes eine halbe Million schwere Plattensammlung war die perfekte Quelle. Aktuell weiß man von 105 (geklärten) Samples, die Matt Dikes fand, die die Dust Brothers in atomspaltender Manier zusammenschraubten und Tontechniker Mario Caldato Jr. den richtigen Schliff verpasste. Die Beastie Boys spiegelten diesen massiven Eklektizismus, der laut Dike stellenweise purer Plagiarismus war, in ihren Texten, deren narrative Verfolgungsjagden sich ebenfalls aus einer Unmenge popkultureller Zitate und Referenzen – von Galileo bis AC/DC – speisten.
Sprechen die Beteiligten von der Entstehung des Albums, kann sich niemand mehr an die eigentliche, finale Produktionsphase erinnern. »Paul’s Boutique« bleibt auch für sie eine Aneinanderreihung zufälliger Begegnungen, kleinerer bis größerer Jungenstreiche und Egg-Bys (Drive-By-Shootings mit rohen Eiern). Nicht zu vergessen, der mit Spielautomaten vollgestellte Orchestersaal der berühmten Record Plant Studios. Jeder Return-On-Investment-Hansel dürfte heute noch darüber den Kopf schütteln. Doch die Beastie Boys haben Recht behalten.