Kann ein Lied zugleich Ortserkundung, Ritual und Skizzenbuch sein? Minor Gestures ist eine erweiterte Folk-Session an mythischen Schauplätzen in Glasgow – »rund um die Govan Stones, den River Clyde und unterirdische Rinnsale«. Stilistisch oszilliert das Album zwischen Folk, Drone und Improv. Dabei setzt Musikerin Susannah Stark Field Recordings von Vogelzwitschern und Wasser nicht nur als Kulisse, sondern als Mitspielerin ein.
Starks Stimme – oft mehr Beschwörung als Melodie – reibt sich an modularen Synth-Samples, Harmonium, Trompete und Akkordeon. Sie singt auf Schottisch-Gälisch. Angesichts der verschwindend geringen Zahl an Sprecher:innen dürfte das eher eine ästhetische Entscheidung als eine aus lebendiger Praxis heraus entstandene sein (Stark »credited« einen eigenen Sprachsupport in den Liner Notes). Das Album beschwört eine Vergangenheit – eine abwesende, unzugängliche Vergangenheit.
Folk ist hier nicht die Feier eines identitären Erbes, sondern die Trauer über den Verlust von etwas, das man nie hatte. Entsprechend nahe liegt Minor Gestures an experimenteller Musik und Art-Pop. Mal klingt Stark zart wie Julia Holter (»Caochan«), getragen wie Lankum (»Trì stiùirichean«), nur um dann zu beunruhigen wie Tanya Tagaq (»Ordinary Day«).
Es ist ein heterogenes Hörerlebnis: Lieder tauchen auf, taumeln, verschwinden wieder, bleiben manchmal skizzenhaft. Minor Gestures beweist: Kleine Gesten genügen, um eine Landschaft zum Klingen zu bringen.

Minor Gestures