Egisto Macchi und die Revolution der Library Music

16.06.2025

Die Musik des italienischen Komponisten Egisto Macchi ist keine Sache für 70er-Jahre-Nostalgiker. Sie klingt heute immer noch so radikal neu und aufregend wie vor fünf Jahrzehnten.

Von einer »Höllenvision«, einer regelrechten »Psycho-Orgie« berichtet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in der Ausgabe vom 21. April 1968. Ein namentlich nicht genannter Autor beschreibt im Kulturteil des Magazins eine Aufführung, die er ein paar Tage zuvor im Haus der Kunst in München erlebt hat. Von »Tonband-Rauschen« ist die Rede, vom »furiosen Lärm einer Beat-Combo«, von »atonalen Dissonanzen der präparierten Klaviere, Kontrabässe und Schlagzeuge, von Cembalo-, Harmonium- und Celesta-Tönen«. Die Rezension ist mit einem ironischen Unterton verfasst, mit dem sich der Autor stellvertretend für seine bildungsbürgerliche Zielgruppe über etwas erhebt, das er nicht ganz verstehen kann oder auch nicht verstehen will.

Das Etwas ist die Oper A(lter) A(ction) des italienischen Komponisten Egisto Macchi. Sie handelt von dem 1948 verstorbenen surrealistischen französischen Dramatiker und Dichter Antonin Artaud, der wegen einer diagnostizierten Schizophrenie die letzten Jahre seines Lebens in geschlossenen psychiatrischen Kliniken verbracht hat. Als das Spektakel in München zur Aufführung kommt, ist sein Urheber Egisto Macchi 40 Jahre alt und hat als Komponist schon einiges erreicht, aber seine Meisterwerke wird er erst im kommenden Jahrzehnt komponieren und auf Schallplatte pressen lassen.

Egisto Macchi wird 1928 in Grosseto in der Toskana geboren und wächst in Rom auf. Bevor er sich der Musik zuwendet, beginnt er ein Medizinstudium, wechselt das Fach und macht einen Abschluss in Literatur und Philologie. Ab Ende der 40er-Jahre schreibt er Soundtracks für Film- und Fernsehdokumentationen, beschäftigt sich in den 50ern mit Kammermusik und dann kurz mit serieller und schließlich auch mit elektronischer Musik. Arnold Schönberg, Alban Berg, Béla Bartók und Giacomo Puccini zählen zu seinen wichtigsten musikalischen Einflüssen. Seine Arbeiten, egal für welchen Anlass er sie komponiert, sind immer der Klangforschung und dem Experiment verpflichtet. Das scheint in seiner DNA festgeschrieben zu sein, seit er bei den Neutönern Roman Vlad und Hermann Scherchen Ende der 40er-/Anfang der 50er-Jahre Komposition und Piano studiert hat.

Für große Schönheit braucht es keine falsche Rücksicht

Neben Franco Evangelisti und seinem engen Freund Ennio Morricone gehört Macchi ab 1967 zur Kernbesetzung der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Diese Vereinigung von Komponisten dient einem eigentlich widersprüchlichen Zweck. Ziel der Gruppo ist es, die Grenze zwischen notierter und improvisierter Musik aufzuheben. Der Komponist wird zum Interpreten seines in Echtzeit komponierten Werks. Die Mitglieder der Gruppo improvisieren zwar frei – das aber innerhalb vorher festgelegter musikalischer Konzepte. Dabei entsteht eine Musik, die die vollkommene Abkehr von jeglichen Traditionen bedeutet: musikalische Abstraktionen lassen keine Rückschlüsse auf die Klangquelle zu, Free-Jazz-artige Passagen, Soundcollagen, Noise und elektro-akustische Einlagen formieren sich zu einer radikalen Klangästhetik, die weit bis in die Gegenwart der experimentellen Musik hineinwirkt.

»Er arbeitet sehr schnell, gut und eng mit mir zusammen, und die Klänge, die er produziert, sind von außergewöhnlicher Spannung, Fülle und Schönheit.«

Selbst Ennio Morricone konnte es Regisseur Joseph Losey nicht Recht machen. Egisto Macchi aber…

Ab 1967 arbeitet Egisto Macchi wieder verstärkt für Film und Fernsehen. Er komponiert in den nächsten Jahren Soundtracks für Filme wie Bandidos (1967), Gangsters ’70 (1968), Black Holiday (1973) und Mr. Klein (1976). Die Komposition von Filmmusik kann unter Umständen eine nervenaufreibende Sache sein. Wenn der Komponist in künstlerischer Freiheit arbeiten kann, ist alles gut. Wenn aber wichtige Filmleute meinen, dem Komponisten gute Ratschläge erteilen zu müssen, kann es schwierig werden. Als der amerikanische Regisseur Joseph Losey 1972 für seinen europäischen Film The Assassination of Trotsky (deutsch: Das Mädchen und der Mörder) einen Komponisten für die Filmmusik sucht, ist er schwer zufriedenzustellen – bis er Egisto Macchi findet. Vorher hat Losey namhafte Filmkomponisten wie Nino Rota, Carlo Rustichelli und sogar Ennio Morricone abgelehnt, allein Egisto Macchi findet Gnade vor seinen Ohren. Euphorisch schreibt der Regisseur an den Produzenten des Films: »Ich bin begeistert von Macchi als Komponist, Arrangeur und Dirigent. Ich glaube, die Musik wird den Film sehr bereichern, auch wenn sie sicherlich kein verwertbares Titellied liefern wird und kann. Er arbeitet sehr schnell, gut und eng mit mir zusammen, und die Klänge, die er produziert, sind von außergewöhnlicher Spannung, Fülle und Schönheit.« So liefert der Regisseur eine Kurzbeschreibung der wichtigsten Eigenschaften, die Egisto Macchis Kunst über die vieler seiner Zeitgenossen hinausheben: Er stellt zeitlose Soundästhetik über die Melodie, seine Musik kreist um Elemente, die eine hypnotische Spannung erzeugen. Und er kann »kein verwertbares Titellied liefern«, in anderen Worten: Er nimmt in seiner Musik keine Rücksicht auf Kommerzialität.

Und am Morgen zwitschern die Vögel

Seinen Hang zu musikalischen Experimenten lebt Macchi in den 70ern noch mehr aus, als er die Library Music für sich entdeckt. Library Music ist vorauseilend aufgenommene Musik für Film, TV, Radio oder Werbung. Sie wird in kleinen Auflagen auf Schallplatte gepresst, ist meist nicht im Handel erhältlich und kann über bestimmte Musikarchive, die »Libraries«, von Produktionsfirmen gekauft und in Filmen, Fernseh- und Radiosendungen verwendet werden. Der Library Music liegt kein konkreter Auftrag zugrunde. Sie ist lediglich ein Angebot an potenzielle Kunden. Die visuelle Komponente spielt dabei eine große Rolle, die Library Music und die Filmbilder, die sie untermalt, stellen eine audiovisuelle Einheit dar. Wahrscheinlich ist Kinobesuchern oftmals gar nicht bewusst, dass es sich bei den Tönen, die die Szenen in einem Giallo-Film, einem Softporno oder einem Gangsterfilm begleiten, überhaupt um Musik handelt. Deshalb können die Komponisten so frei agieren, wie sie wollen – was oft in abenteuerlicher Musik resultiert.

Die Themen, die Macchi sich für seine Library-Platten setzt, wirken wie ein Spiegelbild der Interessen der Cocktail Society der 70er-Jahre: das Nachtleben (Città Notte, 1972), moderne Malerei (Pittura Moderna N. 1 & N. 2, 1976), Reisen an »exotische« Orte (Africa Minima, 1972; Il Deserto, 1974; Messico, 1976; Asia, 1979). Il Deserto ist Genre-übergreifend eines der größten musikalischen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Irgendwo in der Grauzone zwischen der Avantgarde der Neuen Musik und Proto-Ambient skizziert Macchi musikalisch eine Wüstenlandschaft, die eben nur auf den ersten Blick öde und unbelebt erscheint. Minimalistische Töne, Drones, sublimes Grummeln, singuläre Streicher- und Trompetentöne und elektronische Interferenzen erzeugen einen permanenten Auf- und Abbau von Spannung. Das bewegt sich überwiegend diesseits der Linie zur Atonalität, geht aber gelegentlich über die Grenze hinaus. Oder Città Notte, die Vertonung eines Spaziergangs durch die nächtliche Stadt, aufgenommen mit der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Macchi lässt Folk- und Popmelodien auf abstrakte Klangkonstruktionen und Wohlklang auf Dissonanzen treffen. Er erzeugt melancholische Stimmungen mit tonalen Introspektionen und atonalen Interludien. Dazu spielt Ennio Morricone eine sehr freie Trompete. Und am Morgen zwitschern die Vögel.

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Dass wir das alles wieder hören und wieder auf Schallplatte hören können, hat mit der Rückbesinnung der Popkultur auf ihre eigene Vergangenheit zu tun. Die Historisierung der (Pop-)Musik beginnt in den 1990er-Jahren im ganz großen Stil – in Form der Wiederveröffentlichung von Schallplatten auch von obskursten Musiker:innen. Der Autor Simon Reynolds wird das Phänomen später als Retromania bezeichnen. Ende der 90er stehen zunächst die Soundtracks von Ennio Morricone im Mittelpunkt eines wahren Wiederveröffentlichungsrausches. Wahrscheinlich hat das etwas mit dem damals grassierenden Easy-Listening-Revival zu tun, auch wenn die meiste Musik des Italieners alles andere als leicht zu konsumieren ist. Filmkomponisten wie Bruno Nicolai, Riz Ortolani oder Piero Piccioni folgen – bis in den 2000er-Jahren Egisto Macchi wiederentdeckt wird. Und bei ihm gibt es viel zu entdecken. Als Macchi 1992 im Alter von 64 Jahren stirbt, hinterlässt er über 1000 Kompositionen für Film- und Library Music.

Die Retromania triggert den Jagdinstinkt von Plattensammlern nach Raritäten. Macchis Il Deserto etwa ist eine der rarsten Library-Platten überhaupt. Sammler sind bereit, für Originalpressungen 1.500 Euro auszugeben. Wenn das Album dann nach Jahrzehnten wiederveröffentlicht wird, erzeugt das das Gefühl, einen Schatz, der lange Zeit verloren geglaubt war, wiedergefunden zu haben. Auf der anderen Seite spielt auch die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten eine Rolle, verbunden mit der festen Überzeugung, dass diese Zeiten besser waren als die Gegenwart. Davor ist bisher noch keine Generation sicher gewesen. Nostalgie ist eine komische Sache, weil es dabei unerheblich ist, ob Nostalgiker diese Vergangenheit erst erlebt und später in biografischer Verblendung umgedeutet und verklärt haben. Oder ob Spätgeborene die Zeichen und Codes, die Musik, Film und Mode aus der Vergangenheit liefern, dechiffrieren und dann zu dem Schluss kommen, dass »früher alles besser« gewesen ist. Vielleicht hilft die Musik Egisto Macchis manchen dabei, ein 70er-Jahre-Gefühl zu aktivieren, aber es ist keine Musik, die liegend auf dem Flokati-Teppich im Schein der Lavalampe »ironisch« gehört werden möchte. Dafür ist sie zu aufregend, auf sanfte Weise zu radikal und nach all den Jahren immer noch zu neu, um irgendeiner Musiktradition zugeordnet zu werden.

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Library Jazz

Unter dem Themenschwerpunkt »Library Jazz« fassen wir Beiträge zusammen, die sich mit Library Music, insbesondere mit der Schnittstelle zum Jazz, beschäftigen. Aber nicht nur. Es ist kompliziert.

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