Wenn man in die Kommentarspalte von Xmal Deutschland YouTube-Videos schaut, stößt man auf zwei Reaktionen. Manche drücken aus, wie prägend die Hamburger Formation hinter Anja Huwe in den 80er-Jahren für sie gewesen sei. Die anderen stellen bestürzt fest, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt von der Band gehört hätten – obwohl dieses Crossover von Siouxsie and the Banshees und Joy Division eigentlich genau ihrem Geschmack entspricht. Um letztere Frage direkt vorwegzunehmen: Die als All-Girl-Band 1980 gegründeten Xmal Deutschland haben seit 1989 die content machine nicht mehr gefüttert, aka nichts mehr veröffentlicht.
Ihr Vermächtnis besteht daher aus dem Mysterium, dass ihre knapp zehnjährige Karriere über Generationen hinweg weitreichende Spuren hinterlassen hat – ohne sich je vollständig im kollektiven Bewusstsein verankert zu haben. Mit The Gift (The 4AD-Years) meldet sich ehemalige Frontfrau Anja Huwe im Jahr 2025 mit einer Zeitkapsel zurück, die die Strahlkraft von Xmal Deutschland neu zugänglich macht und gleichzeitig das Geheimnis ihrer andauernden Faszination bewahrt. »Wir haben diese Zeit geprägt und das ist ein Grund, diesen Release zu haben«, sagt Huwe heute über die Wiederveröffentlichung – und bringt damit auf den Punkt, warum Xmal Deutschland auch vierzig Jahre später nichts von ihrer Intensität verloren hat.
Einfach anders machen: Die Geburtsstunde
Xmal Deutschland entstand 1980 in einer Hamburger Szene, die noch stark von tradierten Lebenswegen geprägt war. Wer Musik machen wollte, brauchte angeblich Talent oder eine Ausbildung – zumindest im gängigen Verständnis. Für Anja Huwe und ihre Mitstreiterinnen Manuela Rickers, Fiona Sangster, Rita Simonsen und Caro May galt das nicht. Getragen vom Geist der damaligen Punk-Bewegung entstand eine Haltung, die den Dilettantismus feierte und auf Konventionen pfiff: Jeder konnte alles machen. »So richtig spielen und singen konnten wir nicht – aber das haben ja alle so gemacht«, erinnert sich Huwe. Also machten sie es einfach.
Hamburg bot damals wenig für junge Menschen, die sich nicht mit Stars wie Udo Lindenberg identifizierten. Inspiration kam aus kleinen Clubs, in denen englische Punk- und Alternative-Bands spielten. Hier mischten sich verschiedene Strömungen, und das Publikum bestand aus Punks, Outsidern und Andersdenkenden. In dieser offenen Atmosphäre entstand eine frühe Form von künstlerischem Selbstverständnis: nicht durch Virtuosität, sondern durch Ausdruck, Haltung und Entschlossenheit. Musik, Kunst, Subkultur – alles folgte demselben Prinzip: einfach machen, statt warten, bis jemand einem die Erlaubnis erteilte.
Alles, außer lustig: Die Anfänge
Trotz der Offenheit in der Hamburger Underground-Szene stieß Xmal Deutschland zunächst auf eine gewisse Skepsis. »Man kannte sich ja untereinander«, sagt Anja Huwe, »und ich glaube, die fanden es zum Teil ganz lustig, dass gerade wir Mädchen eine Band gründeten.« Akzeptanz war da, aber echte Anerkennung ließ auf sich warten. Erst als die Band erste Platten auf dem Hamburger Label ZickZack veröffentlichte, änderte sich das langsam. »Da kamen dann diese typischen Sprüche, die wahrscheinlich jede kennt: ›Ja, das sind ja Mädchen, ist ja klar, warum die Erfolg haben, die sind ja hübsch.‹« Für Huwe und ihre Bandkolleginnen war das allerdings nie ein Thema. »Wenn ihr das so seht, ist das euer Problem«, sagt sie rückblickend.
»Man hatte eine Idee davon, was man machen möchte, aber man war auch limitiert, weil man es eigentlich nicht konnte.«
Anja Huwe
Eine bewusste stilistische Einordnung ihres Sounds nahmen Xmal Deutschland in dieser frühen Phase kaum vor. »Man hatte eine Idee davon, was man machen möchte, aber man war auch limitiert, weil man es eigentlich nicht konnte«, beschreibt Huwe den Prozess.
Ihre musikalische Orientierung speiste sich vor allem aus den Vorbildern, die sie live erlebt hatten: The Cure, Psychedelic Furs, aber auch die eklektische Energie von Bands wie Clash, die Punk und Reggae mischten. In dieser Anfangszeit war vieles noch offen, doch Xmal Deutschland neigten von Beginn an zu einer düsteren, atmosphärisch dichten Ästhetik. Humoristische oder verspielte Elemente, wie sie später etwa die Neue Deutsche Welle dominierten, waren für sie nie eine Option. »Lustig war ja die Neue Deutsche Welle, und das wollten wir überhaupt nicht.«
Vom Fetisch zum Vollzeitjob: Die 4AD-Jahre
Der entscheidende Wendepunkt kam, als eine Kassette von Xmal Deutschland beim britischen Label 4AD auf Interesse stieß. »Die bekamen irgendwann eine Kassette von uns, und kurz darauf waren sie bei uns in Hamburg«, erinnert sich Anja Huwe. Nach einem Treffen im Proberaum machte ihnen ein Label-Vertreter das Angebot, nach England zu kommen und ein Album aufzunehmen. Im Blackwing Studio, in dem auch viele andere 4AD-Bands arbeiteten, nahmen Xmal Deutschland ihr Debütalbum Fetisch auf. Für Huwe und ihre Mitstreiterinnen eine beeindruckende Erfahrung: »Das war völlig irreal. Wir waren in dem Studio, in dem die Bands probten, die wir selbst gehört haben.« Das fertige Album erschien 1983 – komplett auf Deutsch gesungen – und erreichte trotz der Sprachbarriere eine starke Resonanz beim britischen Publikum. Schon ihr erster Auftritt in England wurde zu einem kleinen Ereignis: »Da tauchten fünf teutonische Mädchen auf, mit diesem Wall of Sound – die waren völlig perplex. Die konnten es gar nicht fassen und fanden das zum Teil richtig toll.«
Die Zusammenarbeit mit 4AD öffnete der Band viele Türen. Tourneen durch Europa, die USA und sogar Japan folgten. Doch mit dem internationalen Erfolg änderte sich auch der Alltag für Xmal Deutschland spürbar. Was anfangs aus spontaner Begeisterung entstanden war, wurde zunehmend zu professioneller Arbeit: »Wenn du mal ein paar Gigs spielst, super. Aber wenn du Europa, Amerika und Japan spielst – das ist eine ganz andere Nummer. Da musst du schon gucken, dass du deine Energie zusammenhältst.« Die Veröffentlichung des zweiten Albums Tocsin im Jahr 1984 bestätigte den Aufwärtstrend. Musikalisch entwickelten sich Xmal Deutschland weiter: Die Songs wurden kompakter, die düstere Grundstimmung blieb erhalten, doch die Strukturen waren ausgefeilter.
Ein weiterer Meilenstein war die EP Sequenz von 1985, die auf einer BBC Peel Session basierte. Sie zeigte eine rauere, direktere Seite der Band und dokumentierte zugleich die enorme Live-Energie, die Xmal Deutschland auszeichnete. Die internationale Nachfrage wuchs weiter, doch die stetige Belastung durch Touren und Studiotermine forderte ihren Tribut. Was als rebellisches Projekt unter Freundinnen begonnen hatte, war längst zu einem Vollzeitjob geworden – inklusive der Kompromisse und Spannungen, die damit einhergingen.
Zwischen Erfolg und Zerissenheit: Der Anfang vom Ende
Mit wachsendem Erfolg stieg also auch der Druck auf Xmal Deutschland. Das Engagement bei einem Major-Label wie Phonogram brachte neue Möglichkeiten, aber auch neue Erwartungen mit sich. »Das Label hatte natürlich gewisse Vorstellungen, wie wir uns weiterentwickeln sollten«, erinnert sich Anja Huwe. Ein großer Verlag wiederum verfolgte andere Interessen – und zwischen diesen Fronten musste sich die Band neu behaupten. Innerhalb der Gruppe selbst gab es zunächst keine schwerwiegenden Konflikte. »In der Band war alles okay«, erzählt Anja Huwe.
Doch mit der Zeit änderte sich das. Was als Freundeskreis begonnen hatte, verwandelte sich zunehmend in einen hochprofessionellen Arbeitsapparat. »Du bist jeden Tag, jede Nacht zusammen. Am Anfang ist das sehr fruchtbar. Aber irgendwann wird’s schwierig, weil du ständig Kompromisse schließen musst«, beschreibt Huwe die Dynamik. Das Leben auf Tour und die intensive Arbeit im Studio forderten ihren Tribut – und ließen kaum Raum für Abstand oder Erholung.
»Irgendwann musst du anfangen, professioneller zu arbeiten. Jeden Tag in den Proberaum, Songs schreiben – und nicht einfach mal gucken, wie es läuft«
Anja Huwe
Hinzu kam, dass das Management, das u.a. auch Bands wie Simple Minds betreute, irgendwann andere Prioritäten setzte. Während Xmal Deutschland anfangs noch einen engen Austausch pflegten, wurden sie mit der Zeit in einen Betrieb eingespannt, in dem persönliche Bindungen weniger Gewicht hatten als Professionalität und wirtschaftliche Interessen. »Irgendwann musst du anfangen, professioneller zu arbeiten. Jeden Tag in den Proberaum, Songs schreiben – und nicht einfach mal gucken, wie es läuft«, fasst Huwe zusammen.
Irgendwann reicht es: Die Auflösung der Band
Nach sieben Jahren intensiver gemeinsamer Arbeit begann sich bei Xmal Deutschland allmählich eine Erschöpfung abzuzeichnen. »Du bist sieben Jahre zusammen, machst alles gemeinsam, und irgendwann gibt es Diskrepanzen«, beschreibt Anja Huwe rückblickend. Besonders der zunehmende Druck von außen spielte dabei eine Rolle. Nachdem die Band bei Phonogramm unter Vertrag genommen worden war, kamen neue Erwartungen – insbesondere an Huwe als Frontfigur. Wie es bei anderen Bands üblich war, etwa bei Björk und den Sugarcubes, wurde auch ihr nahegelegt, über eine Solokarriere nachzudenken.

Doch Huwe lehnte ab. Sie sah sich immer als Teil eines Kollektivs und nicht als herausgelöste Sängerin: »Ich habe mich nie als Sängerin der Band gesehen. Ich war ein Fünftel von Xmal Deutschland.« Ihr politisches Selbstverständnis ließ es nicht zu, sich auf ein Rollenbild reduzieren zu lassen, das Labels allzu gern vermarkteten. Nach der Veröffentlichung von
Viva und dem Austritt mehrerer Gründungsmitglieder setzte die Band mit Devils 1989 noch einmal ein spätes musikalisches Lebenszeichen – in veränderter Konstellation und mit anderem Klangbild. Anfang der 90er-Jahre löste sich Xmal Deutschland schließlich auf. »Es war eine logische Konsequenz, dass wir gesagt haben: Es reicht«, so Huwe.
Mythos und Haltung: Ein reichhaltiges Erbe
Dass Xmal Deutschland in den 80er-Jahren einen tiefen Eindruck hinterließen und sich zugleich der breiten Wahrnehmung weitgehend entzogen, ist ein zentraler Teil ihres Mythos. Während sie für viele Weggefährten und spätere Generationen von Musiker:innen, besonders im Dark Wave und Post-Punk, eine prägende Referenz wurden, blieb ihre Geschichte für ein größeres Publikum lange eine Lücke. Ihre plötzliche Abwesenheit nach nur wenigen Alben vergrößerte diesen Effekt noch: Was blieb, war eine Mischung aus Bewunderung, Geheimnis und stillem Weiterwirken.
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Mit der Reissue von Gift (The 4AD Years) schließt sich 2025 ein Kreis. Für Anja Huwe ist das mehr als Nostalgie: »Ich sehe das wie mein geistiges Erbe«. Dass die frühen Platten wieder greifbar sind, empfindet sie als Verpflichtung: »Ich finde gut, dass es wieder da ist – die Welt soll das wieder haben«. In den Jahren nach der Band blieb Huwe kreativ: Sie wechselte zur bildenden Kunst und entwickelte sich auch als Solomusikerin weiter. Vier Jahrzehnte nach dem Aufbruch kehrt sie mit Gift (The 4AD Years) zurück – und damit auch die Geschichte von Xmal Deutschland.