Library Music gestern und heute: Zwischen Archivgold und Algorithmus

19.06.2025

Library Music hat entlang technologischer und medialer Umwälzungen eine Evolution durchlaufen. Es gibt mehr davon zu hören denn je, doch ist sie zugleich diffuser geworden. Was also ist der Status quo Library Music heute – und wie sieht ihre Zukunft aus?

Die erste Bibliothek für sogenannte Produktionsmusik wurde vor einem Jahrhundert eingerichtet. In den 1920er-Jahren reagierte die britische Produktionsfirma De Wolfe Music auf das Aufkommen des Tonfilms mit der Produktion von Musikstücken oder Soundeffekten für Filme sowie später Wochenschauen und Werbespots. De Wolfe und ähnliche Unternehmen veröffentlichten Schallplatten, funktionierten aber nicht wie herkömmliche Plattenfirmen – ihre Kundschaft war nicht das Publikum, sondern Medienunternehmen, die billig Musik für Film, Fernsehen oder Radio lizenzieren wollten. Deshalb beauftragte De Wolfe Komponist:innen, Musik für jede denkbare Situation zu schreiben, und legte damit den Grundstein für ein sonderbares Genre: Library Music.

Ähnlich wie die zur selben Zeit aufkommende Muzak und Ambient, wie Brian Eno ihn 1978 definierte, war Library Music als eine Art sekundäre Kunstform gedacht. Sie sollte andere Medien ergänzen, etwas anderes unterstützen und unterstreichen, aber nie zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Komponist:innen strebten deshalb nicht nach Einzigartigkeit, sondern legten es auf Vielfalt, Funktionalität und Einprägsamkeit an. Sie schufen einige der populärsten Musikstücke aller Zeiten, doch kannte kaum jemand ihre Namen. Einige von ihnen, darunter etwa Delia Derbyshire oder Piero Umiliani, wurden später als Innovator:innen anerkannt, und De-Wolfe-Klassiker wie »Way Star« von Rubba wurden von Madlib, The Avalanches und anderen gesampelt.

So wurde die sekundäre nachträglich als eigenständige Kunstform anerkannt. Das verspätete Interesse an und der Ruhm von Library Music aus den 1960er- und 1970er-Jahren wirft jedoch die Frage auf, ob vergleichbare zeitgenössische Musik eines Tages in ähnlicher Weise wertgeschätzt werden wird – und was im audiovisuellen Zeitalter überhaupt als Library Music zählt.

Die Ausbreitung der Library Music

Den gängigen Erzählungen zufolge hat Library Music in den 1970er-Jahren ihren Höhepunkt erreicht, bevor sie zunehmend in den Hintergrund trat oder – passenderweise – immer weniger Aufmerksamkeit auf sich zog. Dies hat mit technologischem Fortschritt, Medienwandel und Veränderungen des Konsumverhaltens zu tun. Als Anfang der 1980er-Jahre Synthesizer und Sampler in breitem Umfang verfügbar wurden, erleichterte dies auch die Massenproduktion von Library Music. Allerdings stieg auch die Nachfrage nach dieser Musik: Fernsehgeräte wurden erschwinglicher, und immer mehr private und öffentliche Kanäle und Sender sprossen aus dem Boden. Filme, Fernsehserien sowie natürlich Werbespots wurden in größeren Mengen mit höherer Frequenz produziert als zuvor.

Library Music und die dahinterstehende Branche erlebten massive kommerzielle Erfolge. In den 1980er-Jahren verdingten sich deshalb Komponist:innen abenteuerlicher Musik ihren Lebensunterhalt mit Library Music. Japans Bubble Economy der späten 1980er-Jahre etwa machte das Geschäft mit Werbemusik besonders profitabel – sogar New-Wave-Innovator Yasuaki Shimizu produzierte eine Reihe von Stücken, die später unter dem Titel Music for Commercials kompiliert wurden. Auch einige Meilensteine des Genres kankyō ongaku wie Hiroshi Yoshimuras »A・I・R (Air In Resort)« wurden als Werbematerial produziert. Doch ähnlich wie das aufs Vinyl gesprühte (!) Parfüm schien die Sogwirkung der Library Music der 1980er-Jahre flüchtig.

Library Music im Internet

Zu einer Zeit, als mehr Library Music produziert wurde als je zuvor, kam es zu einem veritablen Goldrausch. Digger:innen wie Hip-Hop-Produzent:innen entdeckten in den 1990er-Jahren die Kataloge von Produktionsfirmen wie De Wolfe und machten Library-Alben aus den 1960er- und 1970er-Jahren zu Sammlerstücken. Währenddessen konnte sich die Branche dem Sog der Digitalisierung nicht entziehen. Musik ging online, und Library Music zog nach. Doch während die konventionelle Musikindustrie mit dem Aufkommen von Peer-to-Peer-Diensten zu kämpfen hatte, blieb die Library-Music-Industrie davon verschont – machte sie doch ihr Geld nicht mit dem Publikum, sondern der Lizenzierung ihrer Musik für Film, Fernsehen, Radio und Werbung aller Art.

In dieser Hinsicht boten die 2000er-Jahre neue Möglichkeiten. Der Medienkonsum fand zunehmend online statt, und Video wurde zum dominanten Medium des 21. Jahrhunderts, was die Nachfrage erhöhte. Zu diesem Zeitpunkt musste sich De Wolfe Music schon längst mit ernsthafter Konkurrenz auseinandersetzen. Darunter große Player wie Universal Production Music oder traditionsreiche Firmen wie KPM Music und Extreme Music, beide Teil von Sony Music Publishing. Erneut machte der technologische Fortschritt die Produktion von Library Music einfacher und damit billiger – das Aufkommen von Digital Audio Workstations und neue Vertriebsmodelle erleichterten den Einstieg in das Geschäft, was auch zum Aufkommen von Online-Datenbanken für lizenzfreie Musik führte.

Im Folgejahrzehnt allerdings wurde Library Music wiedergeboren. Sie hatte schon immer an der Schnittstelle zwischen der Musik- und der Filmwelt existiert, und da beide Branchen während der 2010er-Jahre zunehmend auf Personalisierung setzten, erhielt sie eine neue Bedeutung – oder besser gesagt kam eine neue Musik auf, die einem sehr ähnlichen Zweck diente.

Library Music im Zeitalter der Personalisierung

In den Jahren 2012 und 2013 fand Spotifys »kuratorische Wende« statt. Das Unternehmen reagierte auf ein paradoxes Problem: Auf der Plattform stand einfach zu viel Musik zur Auswahl. Um die Nutzererfahrung reibungsloser zu gestalten, begann Spotify, sie zu automatisieren. Ähnliche Prozesse waren bei audiovisuellen Plattformen wie YouTube und Netflix zu beobachten. Die Motivation dahinter war keinesfalls altruistisch: Ob bei YouTube, Netflix oder Spotify sorgte das neue Empfehlungsparadigma dafür, dass das Publikum möglichst viel Zeit mit und auf den Plattformen verbrachte. Zu diesem Zweck versorgte Spotify seine Nutzer zunehmend mit dem Soundtrack zu »Momenten«, das heißt zu bestimmten Stimmungen und Aktivitäten.

Während Spotify Musik in pure Vibes verwandelte, geschah auf YouTube Ähnliches. Am 25. Februar 2017 feierte das enigmatische LoFi Girl seine Bildschirmpremiere. Der YouTube-Kanal ChilledCow wurde 2015 ins Leben gerufen, berühmt machte ihn aber erst sein 24/7-Livestream von sogenannten Lo-Fi-Beats – instrumentaler, von J Dilla und anderen inspirierter Hip-Hop, geprägt von Mid-Tempo-Rhythmen und der Klangsignatur von verrauschten Samples. Begleitet von einem Clip eines Anime-Mädchens, das in ihrem Schlafzimmer vor sich her kritzelte, bot ChilledCow so »beats to relax/study to«: die Playlist-Logik von Spotify als audiovisuelles Hintergrundrauschen. Neo-Muzak nennen das viele, es ließe sich auch als Library Music für das Zeitalter der Personalisierung bezeichnen.

ChilledCow benannte sich in Lofi um und wurde, wie De Wolfe Music Jahrzehnte zuvor, zu einer Art Label, das Unmengen von Schallplatten herausbringt. Derweil wurde die neue Rezeptur alter Library-Music-Formeln zum Paradigma – vor allem auf Spotify, wo alles angefangen hatte. Ende 2024 deckte die Journalistin Liz Pelly ein geheimes Programm auf, über das die Musikwelt zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast einem Jahrzehnt spekuliert hatte – das Mysterium der sogenannten »ghost artists«, die in stimmungs- oder aktivitätsorientierten Playlists auftauchten. Sie schienen außerhalb von Spotify nicht zu existieren und verbuchten aber mehr Streams als Genre-Größen wie Brian Eno, die sie aus den beliebten Playlists verdrängt hatten.

Der Soundtrack unseres Alltags

Pelly bestätigte den Verdacht, dass Spotify mit verschiedenen Produktionsfirmen – genau, Lieferantinnen von Library Music – zusammenarbeitete, um der Plattform Geld zu sparen: Das Unternehmen lizenzierte Musik von Firmen wie Epidemic Sound und später Firefly Entertainment zu Gebühren, die unter dem Branchenstandard lagen, und verschuf ihnen im Gegenzug eine bessere Platzierung in den Playlists. Intern bezeichnen Spotify-Mitarbeiter:innen diese Tracks als »Perfect Fit Content«, »passgenauer Inhalt«. Ähnlich wie Library Music wird sie als bestenfalls sekundäre Kunst betrachtet, dient sogar einem ähnlichen Zweck. Zwar liefert sie nicht den Hintergrund-Soundtrack zu Filmen oder TV-Serien, wohl aber zu unserem Alltag. Spotify hatte das Publikum zu Lofi-Girls degradiert.

In gewissem Sinne gibt es heutzutage also zwei verschiedene Arten von Library Music. Die eine erfüllt denselben Zweck wie seit etwa einem Jahrhundert, die andere ist hochgradig personalisiert, zugleich aber völlig anonymisiert. Es stellt sich die Frage, ob ihre Komponist:innen jemals wie Delia Derbyshire, Piero Umiliani und andere eine nachträgliche Aufwertung ihrer Arbeit erleben werden – ist doch die neue Library Music auf Spotify nicht einmal an reale Personen gebunden und wird unter fingierten Identitäten veröffentlicht. Und wer könnte ad hoc Namen von Produzent:innen nennen, die ihre Platten über Lofi veröffentlichen? Sie mögen viele Hörer:innen haben, selten aber Fans.

Dazu kommt, dass Library Music heute leichter repliziert werden kann als je zuvor. Das Aufkommen generativer KI hat es ermöglicht, die Plattformen mit noch unechterer Stimmungsmusik zu überschwemmen, derweil KI-Musik zunehmend in Film und Fernsehen verwendet wird und Plattformen wie TikTok sogar dem Publikum ermöglichen, im Handumdrehen KI-Musik für selbsterstellte Videos zu generieren – sekundärer kann Kunst eigentlich nicht werden. Das mag bedeuten, dass Library Music sich überlebt hat. Und doch stellt sich die Frage, ob sich damit auch das innovative Potenzial von Library Music abgenutzt hat – oder ob es stattdessen für etwas noch Billigeres aufgegeben wird.

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Library Jazz

Unter dem Themenschwerpunkt »Library Jazz« fassen wir Beiträge zusammen, die sich mit Library Music, insbesondere mit der Schnittstelle zum Jazz, beschäftigen. Aber nicht nur. Es ist kompliziert.

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