Label Watch: We Jazz

30.06.2020
We Jazz, das steht für überraschenden Jazz aus dem Norden. Und noch mehr. Seit 2013 gibt es das Festival in Helsinki, seit 2016 das Label. Dort verlegt Matti Nives vorwiegend finnische Bands. Wir stellen euch das Label vor.

Ein Song ist kein Label. Ein einziges Stück kann kaum für eine ganze Plattenfirma stehen. Doch »Tremendoce« hat das Zeug dazu, zur Hymne von We Jazz zu werden. Dieses Querflöten-Loop! Dann setzt ein Breakbeat ein, leicht verschleppt, zu lässig, um zu stolpern. Flirrende Saxophone, dann Synthesizer und im Hintergrund: ein Spiritual-Jazz-Chor. Otis Sandsjö hat ein irritierendes kleines Meisterwerk geschaffen, veröffentlicht wird es Ende Juli auf seinem neuen Album »Y-Otis 2«. Eine Durchnummerierung wie im Rap, ein Sound, wie er vielleicht nur in Skandinavien entstehen kann. Dabei leben die beiden Masterminds dahinter, Saxophonist Sandsjö und Bassist Petter Eldh, seit Jahren in Berlin. Aber auch das gehört zu den Widersprüchen, die diese junge neue Musik aushalten muss, die man, in Ermangelung eines besseren Namens, »Jazz« nennen darf.

We Jazz, das steht für kantigen, überraschenden Jazz aus dem Norden. Manchmal auch für schnörkelosen Swing oder ambiente Elektronikexeperimente. »Das ›Jazz‹ in We Jazz bedeutet eine Vielzahl verschiedener Dinge«, sagt Matti Nives. Seit 2013 gibt es das Festival in Helsinki, seit 2016 das gleichnamige Label. Dort verlegt Matti Nives vorwiegend finnische Bands. Bei We Jazz veröffentlicht der umtriebige Drummers Teppo Mäkynen (3TM, Timo Lassy) und der ähnlich gefragte Bassist Antti Lötjönen (Timo Lassy, Jukka Eskola). Außerdem im Portfolio: ein Dizzy-Gillespie-Tribut des erfahrenen Saxophonisten Jukka Perko, junge, experimentelle Projekte von Mopo oder dem Bowman Trio. Dazu kommt Internationales von den Wahlberlinern Sandsjö und Eldh und dem Brooklyner Baritonsaxophonisten Jonah Parzen-Johnson.


Matti Nives, geboren 1980, ist DJ, Producer, Labelbetreiber, Festivalkurator, Designer und Herausgeber. A Tribe Called Quest und Public Enemy brachten den Finnen über die Samples zum Jazz. »Später gab es dann Ricky-Tick Records in Helsinki«, erinnert sich Matti. »Das Label ist verantwortlich dafür, dass ich im Musikbusiness gelandet bin. Sie haben mit Platten wie denen von Five Corners Quintet, Dalindèo und Timo Lassy bewiesen, dass Jazz auch zeitgenössischen Wert hat. Dass es hier in Finnland passiert, und dass es cool sein kann.«

Timo Lassy ist längst ein enger Freund von Matti Nives. Gemeinsam mit Teppo Mäkynen brachte er letztes Jahr das vorzügliche Duo-Album »Timo Lassy & Teppo Mäkynen« bei We Jazz heraus.Mäkynen ist eine weitere Schlüsselfigur bei We Jazz, ein Allroundkünstler, der sehr viel mehr beherrscht als bloß ein rau swingendes Schlagzeugspiel: er ist Producer, Bandleader, Sammler exotischer Instrumente und hochbegabter Songwriter. Matti Nives: _»Meine Karriere ist ohne Teppo kaum denkbar. Er hat Carte Blanche bei uns, er kann angehen, was immer er mag, und wir werden einen Weg finden, es zu veröffentlichen. Letztes Jahr kamen gleich drei Platten von ihm bei We Jazz heraus, darunter zwei unter dem Namen 3TM. Teppo ist der We Jazz-Künstler, ein visionärer Typ. Er denkt und lebt Musik, in jeder Sekunde.«_


»Das ›Jazz‹ in We Jazz bedeutet eine Vielzahl verschiedener Dinge.«

Matti Nives

»Lake« von 3TM, das auch als Doppelvinyl mit dem introvertierten Ambient-Zwilling »Abyss« erschien, klingt kein bisschen skandinavisch. Das ist akustischer Jazz, der kaum merklich mit elektronischen Overdubs angereichert wird. Warme Post-Bop-Stücke verwandeln sich in Pop-Nummern mit sanftem Industrial-Appeal, einige Songs demonstrieren die perfekte Synthese von Saxophon und Synthesizer.

Matti Nives sind die Sound-Details seiner Veröffentlichungen wichtig, aber: »Ich entdecke oft erst im Rückblick, wie die Alben im Gesamtkontext zueinander stehen. Ich denke, der avantgardistische Teil wird noch zunehmen, aber es wird immer viel dazwischen geben: Mopo zum Beispiel ist recht free, aber auch sehr groovy. Ich liebe auch das 7-Inch-Format, wir haben da eine Serie, die wir für die DJs veröffentlichen. Da wollen wir eher rhythmische Songs herausgeben.«


»Cutting edge music on Vinyl« – dafür steht We Jazz. Nives fungiert als Producer der meisten Releases, obendrein stammt das Cover-Design von ihm.
»Ein Label wie ECM wird auch wegen des Designs respektiert, es geht um eine größere Idee. Eine We Jazz-Platte sollte eine eigene Geschichte erzählen, aber auch aufzeigen, wie sie zu dem Rest des Label-Outputs steht. Ich würde mich selbst eigentlich nie als Designer bezeichnen, aber irgendwann habe ich akzeptiert, dass ich es bin – das verleiht dem Ganzen neue Beständigkeit. Das kommt von meiner DIY-Mentalität – ich wollte einfach lernen, alles selbst zu machen.«

Matti Nives bleibt kreativ und erlaubt sich immer wieder Ungewöhnliches. Gerade erschienen zwei Live-Alben, letztes Jahr kam »Koma Saxo« heraus, das neue Projekt von Petter Eldh. Ein brachiales Quintett mit drei Saxophonen, das man am besten live genießt. »Unsere Releases werden wohl nie große Erträge einfahren«, meint Matti, »aber wir werden schlauer darin, einen Break-even zu erreichen. Es ist ein riesiger Unterschied, ob wir 500 oder 1.000 Exemplare eines Albums pressen lassen können.« Fünfstellige Vinyl-Verkaufszahlen – furchtlosen Kreativgenies wie Otis Sandsjö oder Teppo Mäkynen wünscht man sie jederzeit. Um noch mehr Hymnen zu ermöglichen.