Einen toten Mann to sein lassen. Das bedeutet »Deixem O Morto Morrer«, der Titel der zweiten Single-Auskopplung aus Caianos Debüt-Album »Vou Ficar Neste Quadrado«, das gerade beim Label Glitterbeat erschienen ist. Das Video dazu sieht aus wie ein feministisches Manifest, ist es aber nicht ursprünglich: »Eigentlich geht es in dem Lied darum, dass man Sachen, die abgeschlossen sind, einfach in Ruhe lassen soll«, erklärt sie uns am Rande eines Festivalauftritts in Marseille.
Vou Ficar Neste Quadrado
Es ist nicht das erste Mal, dass die 1999 geborene Portugiesin darauf angesprochen wird. »Weißt du, wir haben in Portugal – woanders bestimmt auch – ein großes Problem mit häuslicher Gewalt. Ich singe über die Probleme, die mir als Frau in unserer Gesellschaft begegnen. Das Video brachte zwar eine Konnotation hervor, die ursprünglich nicht gedacht war, die ich aber gut finde. Meine Stücke sind nie eindimensional zu verstehen.«
Beim komplexen Pop-Sound des Debüt-Albums käme man ohnehin nicht auf die Idee, dass hier irgendetwas eindimensional sei. Behende übereinander geschichtete Spuren, die gegeneinander verschoben werden und dann ineinanderlaufen: Da sind die synkopierenden Drum-Spuren aus gleich unterschiedlichen Quellen, die gerne gedoppelt werden; da sind Synth-Bässe, die grummeln; und da ist diese faszinierende Stimme, die eine unvergleichliche Dringlichkeit aufweist. Wenn man den Ursprung dieser verschiedenen Schichten untersucht, dann ergeben sich spannende Funde.
(Don’t) call it Folktronica
Caiano wurde bereits mit sechs Jahren am Klavier ausgebildet, vertiefte dies bereits mit elf, lernte Jazz am »Hot Club« und studierte nach der Schule Musik. Schon vorher, aber erst recht im Studium selbst, kristallisiert sich dann die Stimme, der Gesang als eigentliches Hauptinstrument heraus. Dabei wächst sie neben Jazz vor allen Dingen mit portugiesischem Liedgut auf. Da sind die Volkslieder, die in den ruralen Gegenden bis heute gesungen werden, die durch charakteristische Perkussionsinstrumente – welche Caiano wiederum auf ihrem Album nutzt – zum Tanzen auffordern. Da sind aber auch die Alben der Revolutionäre wie Zeca Afonso, einer Gruppe an volkstümlichen Musiker*innen, die sich bereits in den Sechzigern gegen die Diktatur des Despoten António Salazar auflehnten und den Soundtrack zur Nelkenrevolution lieferten. Diese ursprünglichen, anachronistischen Sounds, die sind deutlich in den Liedern der Portugiesin wiederzuentdecken.
»Ich habe kein Problem mit dem verpönten Weltmusik-Begriff. Wenn man damit folkloristische Elemente in Musik aus der ganzen Welt betont, dann fühle ich mich davon repräsentiert.«
Ana Lua Caiano
Gleichzeitig, so betont sie vehement, haben vor allen Dingen die Liedern von Björk, Portishead und Laurie Anderson ihren eigenen Pop-Entwurf geprägt. Die Synthese aus dem alten, folkloristischen und dem avantgardistische des Trip-Hops und des 90er Experimental-Pops drücken sich hier vor allen Dingen als synthetische Hybride aus. Nicht zu Unrecht fällt der Begriff »Folktronica« in diesem Zusammenhang immer häufiger – nicht nur bei Caiano, sondern auch bei ähnlichen Pop-Entwürfen aus der Ukraine oder dem Baltikum. Der Portugiesin ist das gleichwohl egal: »Ich habe kein Problem mit dem verpönten Weltmusik-Begriff. Wenn man damit folkloristische Elemente in Musik aus der ganzen Welt betont, dann fühle ich mich davon repräsentiert.«
Doch konservativ sei sie eben auch nicht: Neben den bereits genannten Referenzen nennt sie auch den Kuduro-Sound der Gruppe Buraka Som Sistema prägend. »Der Erhalt von traditioneller Kultur ist wichtig.« Darf aber gerne, wie sie selbst beweist, erneuert und ins 21. Jahrhundert gehievt werden. Dann wird es nämlich sehr unterhaltsam, interessant und tanzbar.