Als im Herbst 2020 die TV-Serie »Gilmore Girls« ihr 20. Jubiläum feierte, nutzten Hunderttausende die Gelegenheit für einen erneuten Abstecher nach Stars Hollow und wurden Folge für Folge nach der ersten Szene mit immer denselben Worten begrüßt: »Where you lead / I will follow…«. Es sind Worte wie ein Nachhausekommen nach langer Zeit. Spätestens irgendwann in der dritten Staffel wird vermutlich das Großteil des Publikums schon wieder darüber froh gewesen sein, dass Netflix eine Funktion zum Skippen des Intros anbietet. Denn »Where You Lead« ist ein Ohrwurm, und zwar ein hartnäckiger. So ein Song, der wenn er einmal drin ist, nicht so schnell wieder weggeht. Großer Pop, im Guten wie im Schlechten.
Bereits im Jahr 2000, mehr aber noch zwei Jahrzehnte später wird den meisten Zuschauer*innen womöglich gar nicht bewusst gewesen sein, dass die Urheberin des Stücks selbst ein Cameo in der Kleinstadtwelt der Gilmores hat: In der zweiten Staffel eröffnet die latent genervte Sophie Bloom einen Musikalienhandel in der Stadt und wird im sechsten Serienjahr von Lane und ihrem Freund Zack dafür eingespannt, den beiden ein paar Songwriting-Kniffe zu zeigen. Denn Bloom, so stellt sich heraus, ist eigentlich eine bekannte, nur eben in die Jahre gekommene Komponistin, die ihre erfolgreichsten Tage hinter sich hat. In einer Show voll verwinkelter und nicht gerade zimperlicher Anspielungen ist das vielleicht die dreisteste. Denn Bloom wird von Carole King gespielt, die eben nicht nur für den Titelsong für »Gilmore Girls« – übrigens eine Neuaufnahme mit ihrer eigenen Tochter Louise Goffin – verantwortlich war, sondern weit über hundert Welthits geschrieben hat.
Als King Ende der 1950er ihre Karriere antritt, hat Phil Spector gerade erst begonnen, den Sound von Pop neu zu definieren. Elvis dominiert die US-Charts, Rock’n’Rock ist here to stay – noch zumindest. King nimmt ihre ersten Songs mit einem gewissen Paul Simon auf, heiratet wenig später im College Gerry Goffin und macht mit ihm gemeinsam Musik. Die beiden haben im Jahr 1960 ihren ersten Hit mit »Will You Love Me Tomorrow« für The Shirelles. Für das Duo ist es der Beginn einer steilen Karriere: The Monkees, Aretha Franklin und Dusty Springfield haben irgendwann alle ihre Nummer im Rolodex. Doch die beiden trennen sich im Jahr 1968, King zieht nach Kalifornien und versucht ihre bisher noch moderat verlaufende Laufbahn als Performerin anzukurbeln. Sie kollaboriert unter anderem mit Joni Mitchell und findet in James Taylor einen neuen Kompositions- und Studiopartner, der sie auch auf ihrem Debüt an der Gitarre begleitet. Das nennt sie nüchtern »Writer«. Songs schreiben kann sie schließlich, mit der Rolle als potenzieller Popstar allerdings mag sie sich nicht recht anfreunden.
Sie wird dennoch einer, als im Februar 1971 »Tapestry« erscheint, auf dem auch eben jener gemeinsam mit Taylor geschriebene Song zu hören ist, der später die »Gilmore Girls« prägen soll. Das Album wird zu einem der meistverkauften der Geschichte, den Ruhm aber kassieren meistens die anderen ein. »You’ve Got a Friend« wird in seiner gleichzeitig veröffentlichten Version von Taylor weltbekannt, »(You Make Me Feel) Like a Natural Woman« ist den meisten bis heute weiterhin als Aretha-Franklin-Nummer in Erinnerung geblieben und selbst »Where You Lead« feierte seine größten kommerziellen Erfolg in der Interpretation durch Barbra Streisand. King wird es vermutlich nicht weiter gestört haben, schließlich ist sie auch auf »Tapestry« mehr Songwriterin als Sängerin, interessiert an der perfekten Popformel und was sich darin alles ausdrücken lässt. Das ist über zwölf Songs genau deshalb eine Menge, weil Kings Ansatz von vielsagender Reduktion geprägt ist. Im Zentrum steht immer der Song, alles andere ist ihm untergeordnet.
Das allerdings heißt keinesfalls, dass »Tapestry« nicht eben jener stilistische Flickenteppich wäre, der im Titel versprochen wird. Angefangen mit dem donnernden Blues von »I Feel the Earth Move« oder »Smackwater Jack« über den Quasi-Soul von »It’s Too Late« hin zu den Klavier-betonten Balladen saugt King die Essenz von diesem und jenem Genre auf, integriert sie mit recht reduzierten Mitteln – Klavier, manchmal Gitarre, Schlagzeug, Bass, seltener durch andere Instrumente ergänzt – in Songs, die keine großen Zugeständnisse an diese oder jene Konvention zu machen scheinen, sondern ihre eigenen Standards ausprägen. Es geht allgemein ums Songwriting und nicht um den individuellen Selbstausdruck. Um Popmusik in ihrer reinsten Form. Die Arrangements sind wasserdicht, Soli gibt es kaum welche und wenn, dann sind sie kurz. »Tapestry« ist auf seine Art ein Album ohne Ego und damit eine absolute Anomalie seiner Zeit und darüber hinaus.
Das lässt sich vor allem am Gesang Kings herauslesen. Der ist nicht expressiv, sondern induktiv: große Gesten, wilde Phrasierungen, das gibt es auf diesem Album nicht. Dafür viel Inhalt in wenigen Worten. Es geht schließlich nicht darum, eine singuläre Gefühlswelt auf möglichst eindrückliche Art und Weise zu kommunizieren, sondern aus dem Individuellen einen Ausdruck für das Allgemeine zu finden. Die Lyrics behandeln fast ausschließlich Abwesenheiten und der Wunsch nach Anwesenheit, um Liebe also, Freundschaft, menschliche Bande und Begierden. Die großen Popthemen, heißt das, die im Jahr 1971 schon vollständig überdehnt und in Worthülsen aufgegangen sind. Weshalb Kings Lyrics beizeiten fast Small-Talk-Charakter annehmen und so das Pathos umschiffen: »So far away / Doesn’t anybody stay in one place anymore« heißt es am Anfang von »So Far Away«. Das liest sich zuerst nicht nach persönlichen Befindlichkeiten, sondern nach einem allzu vertrauten Allgemeinplatz: Eine beiläufige, genervte Bemerkung, in der doch viel mitschwingt – Wut, Ohnmacht, Verzweiflung. In »Tapestry« sind viele solcher Phrasen eingewoben, die für sich betrachtet gar nichts und im Kontext von Kings Songs doch alles bedeuten. Bessere, weil simplere Lyrics wurden in der Popgeschichte kaum geschrieben.
King war und ist eine Hitlieferantin, die mit ihrer Musik andere zu Popstars machte und wie aus Versehen selbst einer wurde. »Tapestry« ist voll von Songs, die, wenn sie einmal drin sind, nicht so schnell wieder weggehen. Es ist allerdings auch ein überragendes Album, das mit viel Bescheidenheit große Themen in Songs überführt, die nach langer Zeit einem Nachhausekommen gleichen. Auch wenn sie sich in der Zwischenzeit als Ohrwürmer verselbstständigen und irgendwann zu nerven beginnen. Denn so ist wirklich großer Pop. Größer als auf »Tapestry« war er selten.