Records Revisited: Speedy J – Ginger (1993)

10.11.2023
Mit seinem Debütalbum »Ginger« leistete der Produzent Speedy J einen so vielseitigen wie reduzierten Beitrag zur »electronic listening music«. Die Energie des Clubs ließ er verfeinert frei, was bis heute mitunter missverstanden wird.

Mit Künstlicher Intelligenz hatte man vor 30 Jahren im Alltag wenig zu tun. Dass bei den britischen Bleep-Pionieren des Labels Warp damals eine Plattenreihe unter dem Titel »Artificial Intelligence« erschien, klang daher nach dem Versprechen von etwas Neuem. Die aufgeschlossene Öffentlichkeit registrierte, dass sich in der elektronischen Musik etwas änderte. Ein wenig wunderte man sich, dass Produzenten, die eben noch harte Club-Banger produziert hatten, auf einmal sanfte Sounds an ihren Synthesizern zusammendrehten.

Am krassesten dürfte der Kontrast beim niederländischen Produzenten Jochem Paap alias Speedy J gewirkt haben. Paap hatte mit Tracks wie »Pullover« längst Techno-Geschichte geschrieben und bewiesen, dass man mit sehr wenigen Elementen sehr viel erreichen kann. »Ginger«, sein Debütalbum, das in Zusammenarbeit mit Richie Hawtins Label +8 entstand, war ebenfalls reduziert, aber ganz ungewohnt.

Zu Beginn der Platte setzt der Titeltrack, in bewährter Techno-Manier, mit einer trockenen, kaum merklich nachhallenden Bassdrum ein. Bloß die gelegentlichen glockenartigen Klänge deuten schon the things to come an. Es entsteht ein unauffällig komplexes Miteinander aus Beat, Offbeat-Bass, sporadisch im Hintergrund kreiselnden Effekten und einer Tabla, die den Part der dezenten Hihat ergänzt. Das Ganze steigert sich allmählich, doch nicht mit maximaler Wummswilligkeit inklusive Zwischenziel Breakdown, sondern wie der Rest des Tracks von höchst effektiver Mäßigung bestimmt. Ein Auftakt, der unerwartet diskret und grandios ist.

Nicht maximale Wummswilligkeit inklusive Zwischenziel Breakdown stehen auf dem Programm.

Von da aus steuert Paap verschiedene Stile an, ohne dass einem das groß auffallen würde. Der Reihe nach: Minimalistisch von Marimba-Patterns beherrscht, ist der Track »Fill 4«. Runtergekochten Sci-Fi-Disco-Groove bietet danach die Nummer »Beam Me Up!«. Wobei man bei der Reihenfolge stets dazusagen muss, von welcher Ausgabe die Rede ist. Bei Warp steht »Beam Me Up!« an dritter Stelle, in der +8-Version beschließt es das Album. Warp nahm zum Ausklang von »Ginger« dafür den ein Jahr zuvor schon auf dem »Artificial Intelligence«-Sampler veröffentlichten Track »De-Orbit« mit langsam rumpelnden Breakbeats und hallig schleifender Melodie. Es ist einer der Hits des Albums und zugleich eine Blaupause für den Freiraum, der sich der elektronischen Musik seither jenseits der Clubgrenzen aufgetan hat.

Unbemerkte Innovation

Interessant an »De-Orbit« ist zudem, dass es nicht, wie man meinen könnte, den Anlass für einen Stilwechsel auf Speedy Js erster LP bot. Denn er hatte anscheinend längst schon eine Reihe von Tracks auf Lager, ohne diese richtig verwenden zu können, weil sie von der Stimmung her nicht zu seinen Techno-EPs passten. Etwaige Vorstellungen, Paap sei ein juveniler martialischer Bretterproduzent gewesen – als »Pullover« 1991 erschien, war er noch Anfang 20 –, der auf einmal seine ›zarte‹ Seite entdeckte, kann man mithin getrost als Unfug zurückweisen. Im Übrigen kehrte er seither bei Bedarf zu ruppigem Techno zurück.

Dass sowohl +8 als auch Warp mit der »Artificial Intelligence«-Reihe einen Ort für offenere Klänge schufen, stellt sich aus heutiger Sicht als Weitsicht dar. Denn selbst wenn es seit der Technozeitrechnung durchgehend eine Praxis der streng ›funktionalen‹ Clubmusik gegeben haben mag, lässt sich ein guter Teil der restlichen Entwicklungen in der elektronischen Musik seit den Neunzigern auf Dinge wie die bunt schillernden Ambient-Flächen über klug konstruiertem Rhythmusgerüst von »Ginger« zurückführen. Diese wiesen in allerlei unterschiedliche Richtungen, von denen viele die Strukturen der Clubmusik hinter sich gelassen haben oder parallel zu ihnen existieren.

Ein guter Teil der Entwicklungen in der elektronischen Musik seit den Neunzigern lässt sich auf Dinge wie die bunt schillernden Ambient-Flächen über klug konstruiertem Rhythmusgerüst von »Ginger« zurückführen

Dass diese intelligente Lebensform, die sich inzwischen ganz selbstverständlich in der Musik verbreitet hat, nicht künstlichen Ursprungs ist, braucht nicht eigens gesagt zu werden. Sie hat sich allerdings künstlicher vulgo elektronischer Mittel bedient, um zu einer neuen Ästhetik im Sinne von »künstlichen Paradiesen«, frei nach Charles Baudelaires gleichnamigem Drogenessay, beizutragen, mit musikalisch hervorgerufenen »Rauschzuständen«.

Diese Innovation blieb bei Speedy J mitunter unbemerkt. Sogar jüngere Reaktionen auf das Album fielen manchmal verhalten aus, statt verfeinerter Methoden hörten einige ›blassen‹ IDM. Das muss man nicht bewerten. Doch wer unvoreingenommen die Ohren und den übrigen Körper wahrnehmen lässt, was auf »Ginger« eine Stunde lang in immer neuen Anläufen entsteht, könnte zu einem anderen Fazit kommen.