»Es ist für uns unmöglich [, zu unseren frühen Arbeiten zurückzukehren]. Wir sind nicht mehr dieselben. Es wäre daher nichts weiter als eine blasse Imitation«. ✽
Autechres Trajektorie war stets die eines progressiven Kontinuums, das vom Gewohnten fortstrebte, ohne die Erinnerung an die Herkunft zu verlieren. Jedes Album beinhaltet die Wurzeln ihres Schaffens und Erinnerungsfetzen vergangener Arbeiten. Jedes Album trägt den Vorgänger weiter voran. Auf ihrem 1997er Album »Chiastic Slide« klingt ihr Genre definierender Vorgänger »Tri Repetae« von 1995 eindeutig nach. Zugleich befindet es sich Lichtjahre von diesem entfernt. Auf »Tri Repetae« hatten sich Sean Booth und Rob Brown erstmals auf das konzentriert, was in den folgenden Jahren ihr herausragendes Trademark werden sollte: Sounddesign an die Grenzen des Dechiffrierbaren zu führen. Ein Aufbohren von Klang in seinen mikroskopischen Möglichkeiten. Und das fortschreitende Ausloten neuer Perspektiven auf Bekanntes.
Dass Autechre diese Reise oftmals in großen Schritten vollziehen, stört immer mal wieder einzelne Cluster der Fangemeinde. Die Menschen bleiben nun mal Gewohnheitstiere mit Hang zu tiefblauen Verlustängsten. 1995 hatten Autechre jedoch bereits die Grenzen unseres Sonnensystems erreicht. Seit »Chiastic Slide« zwei Jahre später hieß es dann Warp, Wurmloch, Weltenforschung. Wer ihnen folgte, lernte mit jeder Veröffentlichung das Hören neu.
Kontinuum und …
»Schlussendlich bewegen wir uns einfach von Punkt zu Punkt und springen zwischendurch über das eine oder andere Stöckchen«.
Auf »Tri Repetae« hatten Autechre begonnen, ihren Maschinen das Prinzip der biologischen Evolution beizubringen. Was wie Loops wirkte, waren in Wirklichkeit sich stetig weiterentwickelnde Mutationen von Ideen. Die festen Strukturen wurden zum Treibeis. Mitunter legte man mehrere hundert Kilometer in einem Track zurück. »Chiastic Slide« (und viele der nachfolgenden Alben) führte diesen kompositorischen Ansatz, der weit über die Bausatz-Mentalität populärer Musik vom Rock bis zum Techno hinausgeht, als Kontinuum fort. An der Oberfläche des Hörens scheinen die Stücke repetitiv. Wer zulässt, die gesamte Konzentration der Musik zu widmen, findet sich jedoch in ständig morphenden Räumen, deren Wände ungreifbar bleiben. Manchmal braucht es Monate, um in einer neuen Autechre-Welt wirklich anzukommen.
Was wie Loops wirkte, waren in Wirklichkeit sich stetig weiterentwickelnde Mutationen von Ideen. Die festen Strukturen wurden zum Treibeis. Mitunter legte man mehrere hundert Kilometer in einem Track zurück.
Auch der Nukleus (fast allen Schaffens) von Autechre bleibt erhalten: Hip-Hop. Autechre wird seit Jahrzehnten als Vertreter von IDM vorgestellt. Wie immer hat sie niemand danach gefragt. Und spätestens mit ihrer EP »Anvil Vapre« von 1995 hatten sie diesen Musikbereich weit hinter sich gelassen. Und zwar für immer. Auf die unbedarfte Frage, welche Elemente zu IDM gehören, antwortete Sean Booth einst knapp: »Frage jemanden, der IDM macht«. Dass sie trotzdem in diesem Genre gefangen gehalten werden, hat vermutlich zwei Gründe. Zum einen landeten sie bei Warp Records zu einer Zeit, als das Label gerade ihre »Artificial Intelligence«-Serie starteten, die als Blaupause des IDM gilt. Zum anderen ringen Fans und Journalist*innen auch nach 30 Jahren nach einer passenden Stilzuordnung Autechres. Vielleicht sollte man auch hier einfach auf Sean Booth hören, wenn er vermerkt, »wir haben keinen Stil kreiert, das sieht von [euch] dort drüben nur so aus«.
Ganz so einfach ist es natürlich auch nicht. Hip-Hop bei Autechre hat nichts mit Hip-Hop von Dr. Dre zu tun. Noch nicht einmal mit Hip-Hop von Push Button Objects oder Danny Brown, die nun wirklich schon weit draußen schwimmen. Hip-Hop fungiert im wahrsten Sinne als Nukleus, als Essenz eines Grooves. Autechre in der Virtual Reality würden als verglitchtes Kopfnicken durch den Weltenraum driften. Und diese Essenz zieht sich von Autechres offensichtlichen Anfängen als Lego Feet zu Beginn der 1990er Jahre bis zu den Restbetrag-Echoräumen der »NTS Session 4« (2018).
… Quantensprünge
Zugleich machten Autechre auf »Chiastic Slide« einen enormen Sprung. Während »Incunabula« (1993), »Amber« (1994) und »Tri Repetae« (1995) sich noch entlang bekannter Referenzklangräume bewegten, öffnete »Chiastic Slide« seinerzeit einen neuen Horizont. Nicht nur schafften Autechre den unbegreiflichen Spagat zwischen Klaustrophobie und Grenzenlosigkeit (aufgrund fehlender Referenzlinien), dichter Dunkelheit und Hoffnung, Aggression und Meditation, maschineller Mechanik und Wärme.
Ihr Sounddesign wurde zunehmend ungreifbar. Die Herkunft und Prozessierung der einzelnen Sounds entzog (und entzieht) sich größtenteils jeglicher Nachvollziehbarkeit. Im besten Fall können HiHats noch als solche erkannt werden. Dann hört es aber schon auf. Selbst die Geeks in den einschlägigen Foren rätseln nach 24 Jahren noch. Was bleibt, sind eher onomatopoetische Zuschreibungen.
Dass Autechre noch nicht einmal beim losgelösten »Hub« und dem kiesknirschenden »Rettic Ac« in der komplett experimentellen, verkopften Ecke landen, wo es nur noch um Einzelgeräusche der Einzelgeräusche wegen geht, ist die eigentliche Stärke von Booth & Brown. »Chiastic Slide« pumpt, betört, nickt und groovt. Und ist noch heute ein Monolith der Rätselhaftigkeit und Schönheit. Es gibt wenige Musiker*innen und keine besseren als Autechre, die es schaffen, ihren kindlich-neugierigen Durst nach Experimentieren mit Klang und Strukturen so perfekt in Musik zu übersetzen, die voller Emotion und Groove ist – und den unbedingten Willen hat, Arsch zu kicken.
»Chiastic Slide« war ihr erstes Zeugnis dafür.