Wussten manche schon immer, fiel anderen erst vor Kurzem auf: Früher war wirklich alles besser. Okay, kleiner Spaß am Rande, allerdings liest sich der jährliche Reissue-Round-up dann doch wie eine Liste von Visionen von Zukünften, die bisher noch nicht Realität geworden sind. Ob nun Arovane, Autechre oder Porter Ricks, Alice Coltrane, Sun Ra und Hiroshi Suzuki, Akiko Yano oder doch Arthur Russell: Noch immer werden jede Menge Schätze der Vergangenheit gehoben, neu verpackt und in eine Welt entlassen, die aus diesen Sounds ihre Lehren ziehen und sie sich gründlich hinter die Ohren schreiben sollte.
Während in aller Welt Jazz neu gedacht wird, liefert der Blick in die Vergangenheit schließlich jede Menge Inspiration. Genauso verhält es sich mit elektronischer Musik und den transkulturellen Versuchen früherer Generationen, die auf einige der in diesem Jahr neu aufgelegten Schallplatten festgehalten wurden. Nicht selten aber erzählen Reissues mehr als nur musikalische Geschichten, sondern sie legen Zeugnis ab von bestimmten Menschen, von den sie umgebenden Kontexten oder gar den Widrigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sahen. Und das letztlich macht es so wertvoll, sich auf sie einzulassen, als Handlungsdirektiven und Hoffnungsspender.
Obwohl es manchmal wirken mag, als sei früher wirklich alles besser war – selbst inmitten der beschissensten Gegenwart bleibt die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt und liefert die Vergangenheit die Tinte, mit der sich das ändern lässt. Es folgen die 50 besten Beispiele für diese Behauptung. Kristoffer Cornils
Schon klar, es sagt viel über den Zustand dieser Welt aus, dass das Werk von Menschen wie Julius Eastman oder seinem Buddy Arthur Russell erst mit Jahr. Zehn. Ten. wirklich erschlossen wird, andererseits jedoch auch über ihre Musik: War halt ihrer Zeit voraus, was willste machen. Die Neuauflage von »Another Thought« durch Be With mag die gefühlte zwanzigste der letzten zehn Jahre sein, das große Fragezeichen wird damit aber noch nicht weggewischt: Wenn die Leute es schon damals gecheckt hätten, wie sähe dann heutzutage die Welt aus? Die Antwort immerhin fällt leicht: besser. Trauriger, aber besser. Kristoffer Cornils
Der österreichische E-Mail-Checker Fennesz und der japanische Ambientionist Sakamoto haben aus ihrer Zusammenarbeit eine Heiratssache zur Liebesgeschichte gemacht. Um mit »Cendre« eine Platte zu produzieren, auf die sich die E-Musik-Abteilung im Musikverein genauso einigen konnte wie 15-jährige Call-of-Duty-Pros, die auf der Suche nach Erlösung dem YouTube-Heiland vertrauten. Und heute mit Atonal-Shirts im Philosophie-Seminar sitzen. Ambient für die E-wig-keit! Christoph Benkeser
Man hat sein Musikerhörer:innen Seepferdchen besser erfolgreich abgeschlossen, bevor man sich »Harmonia Macorcosmia« annimmt, selbstverständlich spielen Joe McPhee und Lasse Marhaug** nicht zur Höregwohnheit hin, sondern von ihr weg. Die Tröte trötet, die Uhr tickt, die Electronics haben Beton im Getriebe: Nicht leicht nervöses Zähneknirschen ist hier das Ziel, sondern der direkte Biss auf die Betonkante. Im Higher Place dann nichts als nacktes Fleisch. Pippo Kuhzart