Records Revisited: Coil – Love’s Secret Domain (1991)

19.03.2021
Techno ist es nicht – doch hinterließ »Love’s Secret Domain« tiefe Furchen in der Clubmusik der 1990er Jahre und markierte für Coil jenen Wendepunkt, ab dem ihr Wirken eine neue Richtung einschlug. Das Projekt hätte es fast zerrissen.

Inspiriert von der lunatischen Tradition Englands, von Visionären und Außenseitern wie Austin Osman Spare, William Blake, Derek Jarman, Sasha Shulgin oder Terence McKenna, aber auch von epischen Halluzinationen während tagelanger Trips im Tonstudio, ist »Love’s Secret Domain« das Werk vierer Künstler am Rande des Nervenzusammenbruchs. Und dennoch: Unter Verwendung neuer Synthesizer, Mixer, Aufnahmetechnologien und Sampler ließen Peter »Sleazy« Christopherson, John Balance, Danny Hyde und Stephen Thrower mehr Energie in die schier unüberschaubare Produktion dieses Albums fließen, als in das ausufernde Konzept dahinter, dem westlicher Mystizismus, die esoterische Tradition Englands und Remote Viewing ebenso zugrunde liegen wie transgressiver Sex. »Meiner Erinnerung nach geschah das meiste Mixing nachts. Unser Verständnis des Equipments und das Equipment selbst machten dabei Fortschritte, sodass immer mehr Dinge möglich wurden«, hielt Sleazy ein Jahrzehnt nach Release fest, in der Erinnerung an Zeiten, als er mit seinem ersten Projekt die Industrial Music erfand. »Ich meine, Throbbing Gristle waren ein paar Gitarren und Tapes, während ich und Chris Carter jeden Modular-Synth, jedes Setup oder elektronische Werkzeug von Grund auf selbst bauen mussten« – Umstände von Pionieren, die 1991 kaum noch galten. Gemixt in einem alten Keller in Bloomsbury, ganz in der Nähe des British Museum, zeichnet sich »Love’s Secret Domain« bis heute durch eine Produktion aus, welche die Möglichkeiten ihrer Zeit über weite Teile des Hz-Spektrums verschwenderisch zu nutzen weiß. »Wie Coil klingt, ist oft das Ergebnis des Technologiestands zum jeweiligen Zeitpunkt« – auf »LSD« wurde das deutlicher denn je. »Wir ließen eine Menge Cluberfahrungen einfließen, keine Frage, doch ›LSD‹ handelt viel mehr von diesen Orten, zu denen du innerlich gehst, wenn du im Club bist.«

»Dieses ganze Rhythmus-Ding ist schwachsinnig, komplett schwachsinnig. Stattdessen wollten wir dem Album psychoaktive Qualitäten geben – es sollte Musik zum Berauschen sein.«

Geplant war das so nicht. »Wir betrachteten das nie als Disco, wir versuchten nicht einmal House oder Dance zu machen… niemals. Zwar begannen wir viel Tanzmusik zu hören, doch ließen wir das nicht unsere Alben beeinflussen – bis es auf ›Love’s Secret Domain‹ dann doch geschah, aber auch dabei versuchten wir nie, tanzbar zu klingen«, verriet Balance 2001 in einem Interview mit David Keenan (Autor von »England’s Hidden Reverse«). »Dieses ganze Rhythmus-Ding ist schwachsinnig, komplett schwachsinnig. Stattdessen wollten wir dem Album psychoaktive Qualitäten geben – es sollte Musik zum Berauschen sein. Der Titel und alles andere deuten in diese Richtung – wie offensichtlich hätten wir es bitte machen können?« Sleazy beschrieb es scherzhaft als »party album« und in der Tat: Tracks vom Kaliber eines »The Snow« oder das monumentale »Windowpane« sind Hymnen ekstatischer Selbstverlorenheit, wirkmächtig in Klang und Sprache, sublim in Produktion und Style. Da wo viele zu Beginn der 1990er Jahre den Fokus auf prominente Rhythmen legten, alles ab 40Hz aufwärts nach vorne schoben, sind die Beats auf »LSD« lediglich ein weiteres akustisches Element, geschossen durch zahllose Filter und mit chaotischen Effekten verzwirbelt. Ist der Tenor des Albums dadurch also nonstop auf Entrückung gepolt, geraten lyrisch sowohl der große als auch der kleine Tod, siderische Zwischenlevels von Existenz, zu bestimmenden Angelpunkte. Dem Klangbild ist das eingraviert. Das Abmischen eines »Further Back And Faster« oder des ungemein immersiven »Dark River« entpuppte sich dementsprechend als produktionstechnischer Albtraum, damals vor allem noch ohne digitale Equalizer. »Als Sleazy die erste Version von ›Dark River‹ schrieb, war das eines der Stücke, die mich wirklich für das Album begeisterten. Ich dachte sofort, dass es fantastisch ist und das komplette Gegenteil von »The Snow«, das ich von Tag eins an hasste«, erinnerte sich Thrower 2002. »Es war ein langes, träumerisches Stück und einer meiner Favoriten, doch es dauerte zehn Jahre, bis ich es wieder hören konnte, angesichts der Hölle, durch die wir während des Mixing gingen.« In seiner surrealen Melancholie, den Kaskaden bizarr entfremdeter Samples und der atemberaubenden melodischen Sequenzierung ist es neben »Windowpane« vielleicht der geheime Kern des Albums und vereint viele Stilaspekte, die Coil schon mit »Scatology« (1984) lautierten, spätestens aber seit »Horse Rotorvator« (1986) zu einem Vokabular elaborierter Widersprüche auszuformulieren begannen. »Es war ein derart delikates, präzise balanciertes Stück, dass es vom geringsten Fehler, der geringsten Über- oder Unterkompensation zerstört wurde. Das Mixing war wie eine OP an den Eingeweiden eines Tintenfischs, […] alles musste per Hand eingespielt und moduliert werden. Wir waren schon drei Tage wach und diese finale Herausforderung nahm herkulische Ausmaße an.«

»LSD« war pünktlich zum Ablauf der Studiomiete im Kasten. Die Arbeiten am Album zehrten trotzdem so sehr an allen Beteiligten, dass Thrower im Anschluss das Projekt verließ und ab 1997 zusammen mit seinem Partner und dem späteren Coil-Mitglied Simon Norris aka Ossian Brown als Cyclobe die deformierten Experimente von Coil in neue Extreme trieb. Während Balance und Sleazy nicht nur selbst über Tage zwischen MDMA und Ketamin changierten, sondern auch Gastbeiträge von Annie Anxiety, Rose McDowall, Marc Almond und Charles Hayward (Ex-This Heat Drummer) teilweise in E bezahlten, verzögerte Thrower mit Speed und Acid seinen persönlichen Sinkflug in eine jahrelange Depression – ein Grund für die dann wachsende Abneigung zwischen ihm und Balance, der wohl seinen eigenen Absturz erahnte und vorweggenommen sah. Die DNA von Clubmusik war mit »Love’s Secret Domain« trotz allem nachhaltig verändert worden. Das Resultat war eine elektronische Form von Punk concrète, der bis heute viele nachzueifern suchen und die selbst Störgeräusche, Produktionsartefakte, Verzerrungen auditiv verortete, in letzter Konsequenz also ganz nebenbei den nach 1991 entstandenen Glitch-Stil vorwegnahm – mit Beispielen wie Ikue Mori, Oval oder Ø als unmittelbar hiervon inspirierten Ikonen der Gegenwart.