Inzwischen haben wir uns ja daran gewöhnt, dass die globale Popgeschichte auch und gerade an der sogenannten Peripherie immer wieder Schätze freigibt. Und doch sind wir dann und wann geneigt, bestimmte Regionen für einigermaßen erschlossen zu erklären. Nigeria zum Beispiel. Selbst wenn – zugegeben – nach wie vor gefühlt wöchentlich ein Album neu aufgelegt wird, dass zumindest den Status eines heiligen Grals erfüllt. Die Ankündigung, das britische Plattenlabel BBE Records werde auf seinem Sublabel BBE Africa die Reihe »Tabansi Gold« ins Leben rufen und in den kommenden Jahren so um die 60 Alben aus den 1970er und 1980er Jahren veröffentlichen, die einst auf dem nigerianischen Label Tabansi erschienen, ist dann aber doch eine kleine Sensation. Mindestens.
Den Anfang machten Schallplatten von Zeal Onyia, Nkono Teles und Zack & Geebah. Ein unveröffentlichtes Werk des ghanaischen Highlife-Musikers Ebo Taylor aus dem Jahr 1980 ist bereits angekündigt. Alle Veröffentlichungen werden übrigens neu gemastert und im originalen Artwork wieder zugänglich gemacht. Kuratiert wird die Reihe von John Armstrong. Der Musikhistoriker, Journalist und DJ gilt als ausgewiesener Kenner. »Ich kannte Tabansi seit vielen Jahren, durch verschiedene Schallplatten, auf die ich gestoßen war«, erklärt er die Hintergründe seiner Arbeit im Interview und ergänzt, »BBE Records stellte dann den nötigen Kontakt zum aktuellen Rechteinhaber her. So ging es los.«
»Sogar heute noch entdeckt Tabansi Platten, von denen sie vergessen haben, dass sie sie einmal aufgenommen haben.«
John Armstrong
60 Alben sind ja schon eine ganze Menge. Laut Discogs hat Tabansi mehr als 100 Platten veröffentlicht. »In Wirklichkeit sind es noch weit mehr Platten«, sagt Armstrong. »Die Leute von Tabansi selbst wissen nicht ganz genau wie viele es sind. Ich habe mir so viel wie möglich angehört und überlegt, was die Hörer, die sich für afrikanische Musik interessieren, am ehesten begeistern könnte. Aber auch, was für Leute, die sich erst seit Kurzem mit der Materie beschöftigen, auf Interesse stoßen könnte. Natürlich haben sich auch ein paar subjektive Vorlieben eingeschlichen, das ist unvermeidlich. Aber ich habe versucht, so objektiv wie möglich zu sein.«
Die westafrikanische Musik gibt es nicht
Die größten Herausforderungen bei der Auswahl beschreibt Armstrong wie folgt: »Bei Tabansi ist es ungewöhnlich schwer zu entscheiden, weil das Spektrum an Genres unfassbar breit ist. Ein bisschen so als würde dich jemand fragen: Was ist deine amerikanische Lieblingsmusik? Es gibt zahllose Genres amerikanischer Musik – so ist es auch bei Tabansi. Ich finde es besonders interessant, dass es so viele Stereotype widerlegt, wie westafrikanische Musik sein sollte. In den Siebzigern und Achtzigern mochten die Westafrikaner alles mögliche, genau wie Plattenkäufer in Europa, den USA und so weiter. Sogar heute noch entdeckt Tabansi Platten, von denen sie vergessen haben, dass sie sie einmal aufgenommen haben.«
Dass Tabansi heute noch operiert ist dabei freilich alles andere als selbstverständlich. Die Plattenindustrie hat in den meisten Ländern Afrikas harte Zeiten hinter sich. Armstrong erklärt das so: »Tabansi hat dank der Energie und des Geschäftssinns des Gründers, Chief Tabansi und seiner Mitarbeiter und den beteiligten Familienmitgliedern, so lange überlebt. Chief Tabansi hat Promos der neuen Veröffentlichungen buchstäblich in die Dörfer auf dem Land gebracht und sie den Leuten auf der Straße vorgespielt. Das bedeutet, die Musik kam zu den Kunden mit dem absoluten Minimum an Mittelsmännern und deshalb einem Minimum an Gewinnaufschlägen. Es war ein sehr schlankes Geschäftsmodell. Tabansi produzierte bis in die frügen Neunziger hinein Vinylschallplatten und bringt bis heute CDs und digitale Veröffentlichungen heraus. Heute gibt es bei westafrikanischen Musikkonsumenten ein starkes Interesse an Gospel, und Joe Tabansi, der Sohn von Chief und heute die treibende Kraft in der Firma, ist so umtriebig dabei, Gospel zu promoten, wie es einst Chief war.«
Wenn man heute in Afrika unterwegs ist, kann man den Eindruck erhalten, dass die jungen Leute an der alten Popmusik ihrer Länder nicht sehr interessiert ist. Das sieht auch Armstrong so. Allerdings: »Das ist auch im Rest der Welt so. Meine kleine Tochter mag zum Beispiel Billy Eilish, und es ist ihr peinlich, wenn ich meine alten Rockplatten spiele. Aber sogar in Afrika ändert sich das. Mit dem wachsenden Bewusstsein ihres kulturellen Erbes unter jungen Afrikanern geht eine wachsende Wiederentdeckung traditioneller Musik einher, und das trifft besonders auf nigerianische Musik zu.« Dass die Reihe Tabansi Gold auch in Nigeria vertrieben wird, versteht sich da von selbst.