Review

Luc Ferrari

Solitude Transit: Bande Magnétiques Inédites 1989-1990

Transversales Disques • 2022

Als Mitbegründer der Groupe de recherches musicales (GRM) hat Luc Ferrari zweifelsfrei seine Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen, doch erst seit seinem Tod im Jahr 2005 wird ihnen konsequent nachgereist. »Solitude Transit – Bande Magnétiques Inédites 1989-1990« reiht sich auf den ersten Blick in eine schier unüberschaubare Serie von Neuauflagen seiner Arbeiten ein, doch handelt es sich dabei um bisher unveröffentlichte Aufnahmen, die seinem Spätwerk zuzuordnen sind. Angefertigt wurden sie für eine Tanzperformance Anne-Marie Reynauds und sind dementsprechend formstrenger und, ja, kinetischer als einige von Ferraris elektroakustischen Kompositionen oder Werken aus der Musique concrète. »Roman de Gare« arbeitet noch am konsequentesten mit elektronischen Mitteln, schneidet aber zirkusmusikalische Töne an und bringt sogar schwingende Drum-Grooves in das 26-minütige Stück ein, das sich von einer Szenerie zur nächsten bewegt, hin und wieder bekannte Motive aufnehmend. »Ligne de Fuite« ist hingegen sein Kontext beziehungsweise Anlass – es geht um Tanz, um rhythmische Bewegungen von Körpern im Raum! – nicht so deutlich eingeschrieben. Untenrum dröhnt es elektronisch, droben heulen Eulen oder andere Vögel, orgelähnliches Pfeifen ertönt. Erst nach zehn Minuten erklingt Musik, die sich wie eine verstimmte Blaskapelle ausnimmt. Karneval in der Hölle. Dass »On part chez Marie-Christine« mit relativ konventionellen, ballettesken Klavierklängen beginnt, ist irreführend. Denn irren tut diese Musik tatsächlich, erst durch Tangerine-Dream-ähnliche Traumweltklänge, dann kammermusikalische Figuren der frühen Moderne und sogar Industrial-ähnliche Rhythmen und Sounds. So zeigt sich auf knapp 54 Minuten gebündelt die Bandbreite von Ferraris kompositorischen Fähigkeiten, die er mit den Mitteln seiner Zeit voll ausspielen konnte.