Records Revisited: Primal Scream – Screamadelica (1991)

23.09.2021
1991 – was für ein Jahr für die Rockmusik. Die am 24.9.1991 veröffentlichten Alben von Nirvana, Soundgarden und Red Hot Chili Peppers haben Rock wieder populär gemacht. Aber »Screamadelica« von Primal Scream hat das Genre verändert.

»Wir wollen uns zudröhnen. Wir wollen eine gute Zeit« – so heißt es im Intro zu »Loaded. Und es soll bitte nachher keiner kommen und behaupten Primal Scream hätten hinterm Berg gehalten mit ihrer Mission. Sondieren wir kurz: Es ist das Jahr 1990, Primal Scream haben zwei LPs voller gut gemeintem Indie-Sound veröffentlicht. Von Revolution oder Bedeutung fehlt jede Spur. Ihre Beteiligung am »C86«-Sampler des NME hätte fast das Leichentuch über die Band gelegt: Man war Teil einer Jugendbewegung (Brit-Indie), doch diese war wenige Monate nach ihrem Auftauchen schon weg vom Fenster, muffig und OUT. In Glasgow, in London, in Birmingham oder Liverpool klangen viele Bands so. In Manchester hingegen spielte derweil die richtige Musik. Und die Musik hieß HOUSE.

»It is a new day. We are together. We are unified, …« (Come Together)

Die Haçienda in der alten Industriemetropole war womöglich der einzig wahre Club im gesamten Vereinigten Königreich. Hier tanzten bereits 1987 die Kids, die etwas auf sich hielten, zum Sound, der sonst in Chicago auf WBMX von den Hot 5 gespielt wurde – und tranken nicht mehr bis zur Besinnungslosigkeit, sondern erweiterten lieber ihre Sinne. Man nahm Ecstasy und LSD. Acid House, natürlich benannt nach der Lysergsäure, die man sich locker mal auf die Zunge legte, törnte auch Primal Scream an. Bobby Gillespie, Robert – den jeder nur Throb rief – und Andrew Innes waren keine Kinder von Traurigkeit und hatten zu dem Zeitpunkt vermutlich schon Wagenladungen an Speed in ihre Körper gezogen.

Der multi-toxische Rausch öffnete aber endgültig Schleusen: Innes gebührt der Ruhm den super-talentierten DJ Andrew Weatherall nach einem Remix zu fragen. Weatherall mochte die Band: Bis zu seinem Tod 2020 war er offen für alles von Techno über Industrial oder Indie bis zu Grunge. Mit Gillespie redete er stundenlang über Dub-Reggae. Er nahm den Auftrag an, aus dem Original »I’m Losing More Than I’ll Ever Have« formte er einen werknahen Remix mit Kick-Drum. Die Band war jedoch unzufrieden. Innes wurde deutlich: »JUST FUCKING DESTROY IT!«
Gesagt getan: »Loaded«, wie der Remix später hieß und als solcher auch auf »Screamadelica« landete, verzichtete nun auf Gillespies Gesang, auf die ganze Indie-Scheiße, auf alles wofür Primal Scream bis dahin standen und gab ihr dafür Shaker, einen ordentlichen Beat, einen heute geradezu verwegen wirkenden dubbig-mellow Groove, etwas Unkonkretes. Etwas, was die ganzen Gitarrenrocker trotz wall of sound, Punk und Shoegazing nicht kannten: Abstrakte Gefühle statt konkreter Geschichten und Bilder.

Die Art und Weise wie ein Genre gedacht wurde, hatte sich grundsätzlich verändert. Rockmusik konnte jetzt auch clubby sein – und Club-Musik Rock.

Jetzt hätte dort die Geschichte enden können. Primal Scream greifen wieder zur Gitarre, schauen zufrieden auf den Ausflug zurück, freuen sich über Platz 16 in den Charts. Womöglich wären Primal Scream heutzutage so unbekannt wie die Close Lobsters – wie wer? Eben!
Doch Manager Alan McGee, der schlaue Typ hinter Creation Records und ältester Freund von Bobby Gillespie, die Band, Weatherall, einfach jeder begriff, dass hier etwas passiert war, was vielleicht erst zwei, drei Mal in der Pop-Geschichte vorher geschah: Die Art und Weise wie ein Genre gedacht wurde, hatte sich grundsätzlich verändert. Rockmusik konnte jetzt auch clubby sein – und Club-Musik Rock.
Weatherall wurde engagiert das unausweichliche kommende Album als Produzent zu betreuen; auf seinen Einwand, dass er sowas noch nie gemacht habe, ging niemand mehr ein. Weatherall ehrlich gesagt auch nicht. Die Arbeiten an »Screamadelica« dauerten trotzdem zwei Jahre: Gillespie, Innes und Throb feierten, feierten viel. McGee schreibt in seinen Memoiren »Randale, Raves und Ruhm«: »Im Grunde waren sie nur zwei Tage der Woche in der Lage zu arbeiten, nämlich Mittwoch und Donnerstag. Sie feierten von Donnerstagabend bis Sonntag […] Eine Zwei Tage-Woche!«.

Diese Phase zwischen Sonntag und bis zur nächsten Feier fangen Primal Scream ganz fantastisch auf dem neunten Song der Platte, »I’m Coming Down«, ein. Über Orgel-Vibrato und Saxofon singt Gillespie vom Runterkommen, vom Driften, vom Alleine sein. Gleichzeitig trommelt da hinten jemand die Bongos, in einer anderen Ecke spielt jemand Keyboard und der Saxofonist ist ja auch im Raum: Heute nennen wir das wohl After-Hour. Klar sind alle aufgekratzt, aber gerade noch gechillt genug, um nicht durchzudrehen.

Vor dem »Come Down« stehen aber einige Minuten voller Wahnsinn. Die Platte öffnet mit diesem »Faith-George-Michael-Sound«, mit Gospel, mit einer strahlenden Pop-Nummer namens »Movin‘ On Up«, die im Piano-Riff und dem Bass-Groove längst die fette Party versteckt. Die beiden Singles »Don’t Fight It, Feel It« und auch »Higher Than The Sun« (produziert von The Orb) greifen den verrückten Rave-Neunziger schon feist voraus und klingen wie Fatboy Slim und Paul Oakenfold – nur in geil.
Ja klar, einen Tag später erschien »Nevermind« von Nirvana – trotzdem gibt es gute Gründe »Screamadelica« als einflussreichere Platte von 1991 zu bezeichnen. Man hatte der Menschheit eine neue Welt gezeigt, eine in der man feierte, statt sich selbst zu zerstören (auch wenn Primal Scream darin auch unfassbar gut waren), eine in der man zusammen etwas erlebte und nicht bloß alleine im Zimmer lauschte. Grunge war groß, Techno letztlich größer. Nicht früher als eine ganze Dekade später sollte die erste große Depression eintreten. Doch den Kick-Off den machte ausgerechnet eine verfluchte Gitarrenband aus der deprimierenden, grauen, roughen und gefährlichen schottischen Stadt Glasgow.

Primal Scream
Screamadelica Picture Disc Edition
Sony • 1991 • ab 35.99€