Review

Irreversible Entanglements

Who Sent You?

International Anthem • 2020

Nachdem sie sich 2015 bei einem Musicians Against Police Brutality Event kennenlernten, gründeten Keir Neuringer, Camae Ayewa, Luke Stewart, Aquiles Navarro und Tcheser Holmes das Projekt Irreversible Entanglements, um den eingeschlafenen politischen Free Jazz in den USA zu revitalisieren, was mit dem gleichnamigen Debüt von 2017 bereits eindrücklich gelang. Keinen Tag zu früh, werden doch nach wie vor Minderheiten in Uncle Sams Fantasyland von rassistischen Teilen der Exekutive drangsaliert, diskriminiert und nicht selten getötet, in fast allen Fällen ohne eine konsequente Strafverfolgung erwarten zu müssen. George Floyd ist nur das jüngste Beispiel einer nicht endenden Serie von perversem Machtmissbrauch im vermeintlichen Land Of The Free, wo mittlerweile rund 80% aller Menschen von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben, während eine neoliberale Oligarchie von Wall Street bis Silicon Valley jedes Jahr Profite in dreistelliger Milliardenhöhe einstreicht. Dass weite Teile der abgehängten Schichten die Schnauze gestrichen voll haben, dürfte also jedem mit einem Funken politischer Mündigkeit einleuchten. Falls nicht, könnte »Who Sent You?« mit seinem zurecht abgefuckten Grundtenor, den improvisierten Ausbrüchen von Bass, Drums, Alt-Sax und Trompete sowie den lyrisch-subversiven Texten Camae Ayewas (aka Rap-Reformer Moor Mother) den Job erledigen. »At what point do we stand up?!« Eine Frage, die sich nicht erst seit Trump stellt, sondern bereits während der Amtsperioden von Obama, Bush, Clinton oder Reagan von größter Aktualität war. Mindestens. Und dennoch: Bei aller Wut im Bauch, gehorchen die fünf Stücke einer geistreichen Dialektik aus Jazz-Poesie, Avantgarde-Mystik und Spiritual-Nuancen, die schon allein auditiv ungemein interessant ist. »Who Sent You?« – die Antwort liefert das nur eine Woche zuvor veröffentlichte und ebenfalls einem zeitgenössischen Afrofuturismus verschriebene Zweitwerk von Shabaka And The Ancestors: »We Are Sent Here By History«. Kein Zweifel: Historisch relevanter wird Jazz dieses Jahr nicht mehr.