Aigners Inventur – Januar 2016

10.02.2016
Auch im neuen Jahr setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander, selektiert, lobt und tadelt. Any given month. Dieses Mal u.a. unter der Lupe: SSIO, Crack Ignaz & Wandl, Kyle Hall und Davie Bowie.
Immer wieder schön, wenn der Januar doch nicht so zäh ist, wie man das erwartet. Ob SSIO mit »0,9« tatsächlich schon in der dritten Woche den größten Spaß des Jahres veröffentlicht hat, wird sich noch zeigen, aber wer einen Karnevalsauftritt in aller Würde absolviert und mit der Ansage »Wow, so viele Frauen hier. Sonst kommen zu meinem Konzert immer nur drei und die sehen alle aus wie Xatar«_ hat weiterhin gute Karten. Alles weitere wurde bereits in unserer Vinyl-Sprechstunde verhandelt.

Crack Ignaz & Wandl
Geld Leben
Melting Pot Music • 2016 • ab 9.99€
Viele haben es hierzulande versucht, aber so nah an diese Madlib’sche Kollaborations-Magie wie Wandl und Crack Ignaz sind nicht viele gekommen. »Geld Leben« mag nicht das österreichische »Madvillainy« sein, aber zumindest eine Alpen-»Pinata« , auch weil die Chemie der beiden stark an Freddie Gibbs und Madlib erinnert. Und weil Crack Ignaz und LGoony außerdem zwei Ami-Rap-Versteher sondergleichen sind, gab es wenige Tage später direkt noch ein kostenloses Mixtape namens »Aurora«, auf dem gerade Goony wieder beweist warum er tatsächlich der größte Hook-Versteher hierzulande ist. Oida WOW wird da doch direkt zur Keynote.

Bereits Mitte Dezember veröffentlicht, aber natürlich von allen kalendarischen Krämpfen befreit: new Pusha T, Egckh. Und das beste: der Typ, den ich, wenn ich mich von jeder rappolitischen Entkrampfung befreien würde, als einen meiner drei Lieblingsrapper bezeichnen würde, hat mit »Darkest Before Dawn« tatsächlich fast optimal abgeliefert, wenn nicht mit diesem HHNF-Fokus doch aber mit schön aus der Ära gefallener Stringenz und auch in der neuen Präsidentenrolle mit Glasscherben im Mund und Backpulver in der Missoni-Jacke.

Auch 2016 bleibt der Job als Future-Hivler ein 12-to-12-Hustle, allein in den letzten vier Wochen gab es wieder zwei vollständige Projekte abzuarbeiten. Ich habe bisher nur »Purple Reign« und den »EVOL« Teaser Fly Shit Only geschafft, aber wie mühelos Future weiterhin diese megalomanische Millionärsdepression durchdekliniert ohne zu nerven, kann einem schon Angst machen. Alleine auf »Purple Reign« finden sich wieder mindestens eine handvoll Tracks, die in einem Best-Of-Mix nicht negativ auffallen würde, auch wenn oder gerade weil man den Eindruck nicht los wird, dass es diesem Pharmazie-Pinkler gerade so unverschämt leicht von der Hand geht wie den Golden State Warriors.

Future verdeutlicht auch wie wenig selbstverständlich unverkrampfter R&B ist. Da quält sich Rihanna drei Jahre einen ab, bekommt die besten Beats der Industrie am Konferenztisch abgelehnt, verkrampft sich tägllich auf Instagram diesen unmöglichen Spagat zwischen down ass bitch und Königin zu schaffen, nur um ihr neues Album von einem einzigen neuen Beyonce-Song komplett zerfickt zu bekommen. Wie gut »Anti« ist, wird sich vermutlich erst in Monaten sagen lassen, wenn die im Albumskontext noch häufig zaudernden Songs via Omnipräsenz zu großen Hits gezüchtet wurden, aber der erste Eindruck klingt stark nach Quarterlife-Crisis.

Anderson .Paak
Malibu
Steel Wool • 2016 • ab 15.99€
Das Gegenteil dieser Wreck-Yoself-Zerissenheit die sich sowohl bei Future, als auch bei Rihanna wieder zuhauf feststellen lässt, findet man bei Anderson .Paak. Der trägt eine Geschichte mit sich herum, die die aktuellen #firstworldproblems der Molly & Champagne-Clique lächerlich wirken lassen, aber Dres Zögling geht mit seinen Dämonen ähnlich selbstaffirmierend um wie ein Bilal oder D’Angelo. Auch musikalisch fühlt sich »Malibu« eher zehn Jahre alten Okayplayer-Bookmarks verpflichtet denn Yeezy-Boost-Reddits. All das schreibe ich mit wohlwollendem Nicken und wechsele im letzten Drittel doch wieder den Tab. Es gibt eine neue Post Malone-Single.

Junior Boys
Big Black Coat
City Slang • 2016 • ab 16.99€
Wer dachte, wir hätten mit Post Malone den kaukasischten Punkt auf der R&B-Skala erreicht, irrt. Es gibt nämlich ein neues Album der Junior Boys. Mit den beiden Kanadiern ist es irgendwie seltsam: Kein Mensch denkt je, dass sie zu lange weg waren, aber immer wenn sie wiederkommen, freut man sich wieder über diese polierten Detroit-Synthflächen, die mühelosen Drum-Sequenzen und Jeremy Greenspans ewig schüchternes Falsett. Fairerweise fügt auch »Big Black Coat« dem Ouevre der beiden nichts entscheidendes hinzu, ihr definitives Album erschien mittlerweile auch bereits vor Jahren, aber als Warm-Up für (weitere?) Storm Queen-Singles, ist das auch 2016 eine gute Sache.

Nico Motte
Life Goes On If You Are Lucky
Antinote • 2016 • ab 15.99€
Weiter mit Antinote, die gerade diese Labelphase durchleben, in der alles von alleine läuft. Auch Nico Mottes Minialbum »Life Goes On If You’re Lucky« ist wieder so ein fluffiger Puderzucker-Crepes, die Referenzpunkte (all things geil) risikoarm, aber so sicher eingearbeitet, dass man sich nicht mal daran stören könnte, wenn man denn das Haar im äääääh Teig suchen wollen würde.

Kyle Hall
From Joy
Wild Oats • 2016 • ab 42.99€
Kyle Hall beobachte ich gerne, auch weil er wegen seines Wunderkindstatus’ immer wieder in Fallen tappt. Ich erinnere mich noch recht gut daran, wie Kyle Halls neue Begeisterung für Techno vor einigen Jahren dazu führte, dass er völlig schmerzfrei den ihm von Portable und MCDE bereiteten heimeligen Tanzflur mit einem unfassbar sperrigen und übersteigerten Technoset zerstörte und dies dennoch breit zahnspangengrinsend als Initiationsritus zu schätzen wusste. »From Joy« entstand vor dieser Phase, als Hall gerade als harmonieverliebter Detroit Houser auf sich aufmerksam gemacht hatte und dennoch passt es jetzt wieder besser in Halls Werdegang als noch vor drei Jahren. Die luftigen Höhen einiger früher Singles werden hier zwar nicht erreicht, aber als Protokoll für ausuferndes Talent mit heftigem Preisschild kann man sich eine Investition trotzdem überlegen.

Inkswel
Unity 4 Utopia
BBE Music • 2016 • ab 9.99€
Dass es manchmal ein schmaler Grad zwischen abgewichster Detroit-Flyness und gefälliger Loungerei ist, demonstriert »Unity 4 Utopia«, auf dem Inkswel seine Rhodes-Akkorde manchmal so selbstgefällig unter seine kredibilitätsgesegneten Gastvokalisten packt, dass man nicht weiß, ob man dankbar sein soll für soviel Sound Signaturen oder doch lieber das Gähnen unterdrückt, weil das mehr versatiles Fanalbum als eigenes Statement ist.

Andy Vaz
House Warming
Yore • 2016 • ab 5.72€
Andererseits ist diese Motzerei auch nicht der Ausweg, was will man denn kritisieren an Menschen, die die selben Menschen gut finden wie man selbst? Deswegen entkräfte ich den Epigonen-Vorwurf für Andy Vaz direkt wieder, auch wenn der natürlich auf »House Warming« auch kein neues Kapitel in der House-Geschichte schreibt. Stattdessen gibt es liebevoll recherchierte Fußnoten zu den Lieblingsmotiven Roland und Juno, geschmackssicher in Helvetica Bold gedruckt und im Intro sogar mit einer willkommenen Electro-Randnotiz.

Skee Mask
Shred
Ilian Tape • 2016 • ab 23.99€
Überhaupt Electro: Wenn das alle so hinbekommen würden wie Skee Mask, dann gäbe es dort auch jenseits der Clone-Connection nicht so ein eklatantes Nachwuchsproblem. Nach teilweise sehr forschen Singles traut sich der Münchner auf »Shred« auch an die subtileren Drexciya-Ausläufer heran, streift Ambient-Techno und schafft so einen Spannungsbogen, der dem undankbaren 2LP-Format tatsächlich gewachsen ist.

Kobosil
We Grow, You Decline
Ostgut Ton • 2016 • ab 20.99€
Und wem bisher zu wenig gebollert wurde: Kobosil hat euch lieb. Natürlich ist der neue Berghain-Go-To-Guy für Knochenbrecherei zu gut informiert, um auch im Albumkontext den Chirugen zu geben, aber selbst ein beatloses Arpeggio oder gothische Drone-Bimmelei wirken auf dem wunderbar arrogant betitelten »We Grow, You Decline« fast so bedrohlich wie die erwarteten 128er-Kickdrum-Stampfer.

Dennoch interessant wie Tolouse Low Trax es auch ohne diese Standardmanöver schafft gemeiner und unbequemer zu klingen als jeder Techno-Amboss. Sein neues Projekt Toresch, erschienen über Offen Music, verbindet die kryptischen Vocals von Viktoria Wehrmeister mit ebenso völlig entweltlichtem musikalischem Avantgardismus, den Tolouse Low Trax und sein Kunstakademie-Spezi Jan Wagner derart auf die Spitze treiben, dass all das wieder einmal am meisten Sinn ergibt im deutschlandweit immer noch zu wenig wertgeschätzen Düsseldorfer Wohnzimmer der Beteiligten.

Roly Porter
Third Law
Tri Angle • 2016 • ab 26.99€
Erinnert sich noch jemand an diesen Amon Tobin Soundtrack für »Splinter Cell«? Seltsamerweise schaffte es Amon Tobin dort nicht ganz diese surrealen Spannungsbögen, die seine Soloalben zu solch wahnwitzigen Trips machten, zu duplizieren. Roly Porter drängt sich mit einer guten Dekade Verspätung nun auf dieses Missverständnis zu korrigieren. »Third Law« ist ein radikaler Wall-Of-Sound-Monolith, ständig zwischen Implo- und Explosion pendelnd, bedrohliche Percussion-Patterns in Kakophonie zersetzend, Noise-Terrorismus in trügerische Stille überführend und irgendwann gegen Ende sogar mit der Andeutung eines Happy Ends. Musik ist das nur noch theoretisch, und das ist auch gut so.

David Bowie
Blackstar
Columbia • 2016 • ab 44.99€
Ach herrje, zum Schluss David Bowie. Natürlich. Man kann jetzt lamentieren, dass »Blackstar«, sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes und mit Lazarus nicht um seinen Hurt-Moment verlegenes Album erst posthum zu einem laten greaten Meisterwerk hochgejazzt werden wird, von all denen, die doch in Wirklichkeit auch nur zu Hause sitzen und Low in Dauerschleife hören. Aber ey: fickt euch doch, »Blackstar« ist einfach ein zu schöner Schwanengesang um ihn rationalen Überlegungen zu unterwerfen.