Aigners Inventur – Juni 2016

13.07.2016
Auch in diesem Monat setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander, selektiert, lobt und tadelt. Any given month. Dieses Mal u.a. unter der Lupe: The Avalanches, MC Bomber, Blood Orange und Mala.
The Avalanches
Wildflower Deluxe Edition
XL • 2016 • ab 26.99€
Beginnen wir mit deinem leiblichen Vater. Schenkt dir vor 16 Jahren zur Erstkommunion ein neues Fahrrad und verbringt dann den Rest des neuen Milleniums im All-Inclusive-Urlaub auf Kuba Cocktails schlürfen und vermutlich Frauen knattern, die sich besser gehalten haben als Mutti. In bester Erinnerung ist er dir dennoch geblieben, weil es dein Giant-Mountainbike sogar in deine erste WG geschafft hat. Jetzt steht der Typ ketterauchend auf einmal mit einem neuen Smart vor der Tür und du weißt nicht, ob du dich darüber freuen sollst, oder ob du doch lieber weiterhin zweimal pro Jahr dieses angerostete Mountainbike aus dem Keller tragen willst, wenn dein schniekes Fixie gerade mal wieder einen Platten hat. Lange Rede, tumbe Analogie: The Avalanches konnten es nach »Since I Left You« eigentlich keinem Recht machen und obwohl »Wildflower« in sechs Monaten wieder vergessen sein wird, verspürt man dennoch die Verpflichtung es zumindest zu versuchen mit der Liebe. Da sind die unangenehm Gorillaz’esken Kooperationen, inklusive duck saucigem Viralhit solide Cut&Paste-Soul-Reanimationen, verspätete Chillwavismen, aber nie das Gefühl von damals. Kontext ist und bleibt alles.

DJ Shadow
The Mountain Will Fall
Mass Appeal • 2016 • ab 17.99€
Ähnlich brutal verstiefvatert: DJ Shadow. Es ist kein gutes Zeichen wenn ein ehemaliger »Endtroducing«-Ultra wie ich sich in einem Gruppenchat beschwert für diese Kolumne in »The Mountain Will Fall« reinhören zu müssen. Nun hat Shadow schon vor langem begriffen, dass die epochale Schlagkraft seines Debüts sehr ära-spezifisch war und die dort gewählte Formel kein zweites Mal ähnliche Resultate liefern würde. Vom durchaus schlüssigen Konzept von »The Private Press«, über seine kurze Liebäugelei mit Hyphy und den weitestgehend nichts sagenden Folgealben hin zu dem Genre-Clusterfuck »The Mountain Will Fall« ist es dennoch ein langer, zielloser Marsch geworden. In einem Vakuum wäre beispielsweise die Zusammenarbeit mit Run The Jeweils durchaus einen enthusiastischen Tweet wert, hier verliert sich aber alles im unangenehmen Gefühl einem Meister dabei zugucken zu müssen, wie er verzweifelt versucht seinen Arbeitsplatz kurz vor der Rente nicht doch noch an einen Algorithmus zu verlieren.

Blood Orange (Dev Hynes aka Lightspeed Champion of Test Icicles)
Freetown Sound
Domino • 2016 • ab 25.99€
Ein ähnliches Schicksal kann ich mir für Dev Hynes beim besten Willen nicht vorstellen. Just als man dachte er hätte mit »Cupid Deluxe« diesen S&B-Scheiß (Schweiß/Sleaze/Sex, wie ihr wollt) so perfektioniert, dass es nichts mehr zu sagen gibt, formuliert Blood Orange auf »Freetown Sound« neue Parameter, lyrisch, wie musikalisch, ohne jedoch den Fehler zu machen mit einer Repolitisierung seiner Musik sich seiner Stärken als Songwriter zu berauben. »Freetown Sound« lässt sich hervorragend in den angry,gifted&black – Katalog des letzten Jahres einreihen, anders aber als Babyfather, D’Angelo und Kendrick Lamar geht mit den inneren Dämonen und der systemischen Wut hier nur selten musikalische Brüchigkeit einher. So ist die neue Blood Orange mehr »Lemonade« denn »Black Messiah«, mehr »Hold On We’re Coming Home« denn »Alright«, aber deswegen nicht weniger gut.

Nite Jewel
Liquid Cool
Gloriette • 2016 • ab 12.64€
Und weil mir nach so viel stilistischem und inhaltlichem Schattenboxen die Buxe am Oberschenkel klebt, machen wir weiter mit »Liquid Cool«, dem Capri-Eis unter den Alben dieses Monats. Weitgehend substanzlos, schnell weggeschlotzt, aber für ein paar Minuten auch so ziemlich das beste Gefühl auf der Welt. Boo Hoo, Nite Jewel, Boo Hoo.

Red Hot Chili Peppers
The Getaway
Warner • 2016 • ab 36.99€
Nach einem Capri die nächste Biotonne auslecken zu müssen, so fühlt es sich an nach Nite Jewels willkommener Zurückhaltung Anthony Kiedis‘ wanderhodiges Mackertum auszuhalten. Und weil mich hier keiner zwingen kann diese californicatete Midlife Crisis aus James Murphy-B-Seiten, Rick Rubins Autopilot und viel viel schlimmerem länger zu tolerieren als eine Stanislawski-Analyse bin ich hier frühzeitig…ääääääääh…Moment…Danger Mouse hat das hier verbrochen?! Wie der sich auch einfach mal sowas von ficken kann.

The Kills
Ash & Ice
Domino • 2016 • ab 25.99€
Geil, was mit Gitarren und ich verstehe es trotzdem. Das liegt bei The Kills zwar eindeutig nicht an den Gitarren, sondern Alison Mossharts schludriger Coolness am Mikrofon, aber immerhin habe ich so endlich begriffen, dass auch eine Menge Höhlenmensch in mir steckt: »Ash & Ice« gut, weil Frau gut.

Huerco S
For Those Of You Who Have Never (And Also Those Who Have)
Proibito • 2016 • ab 20.99€
Zur Review
Ambient und New Age – was sich die letzten paar Jahre bereits andeutete ist dieses Jahr endgültig passiert: der Emma-Kater dauert die ganze Woche, dazwischen mediale Hiobsbotschaften und trostlose Foodora-Bestellungen: kein Wunder, dass immer mehr House- und Technoproduzenten Bass- und Kickdrum einmotten und ihrer kieferzermalmten Hörerschaft subtilere Weltflucht liefern als die immer gleiche 122BPM-Hypnose. So, jetzt wo ich die platteste aller Thesen als Überleitung zum elektronischen Teil genutzt habe: vergesst das alles wieder, denn: Huerco S ist kein Dienstleister, sondern Überzeugungstäter, Ambient-Kaskaden waren schon immer Teil seiner DNA und nun hat er mit »FTOYWHATWHN« (lol, niemals tippe ich das vollständig ab) ein Album produziert, das hier bereits nicht ganz zu Unrecht in eine Reihe mit den Gas-Klassikern gestellt wurde.

Bartosz Kruczynski
Baltic Beat
Growing Bin • 2016 • ab 18.99€
Während Huerco S‘ Ambient sich vor allem aus der Tiefe von Techno, Dub und Industrial speist, bevorzugt man bei Growing Bin weiterhin balearische Leichtfüßigkeit und proggige Cheesiness. Auch das Ptaki-Mitglied Bartosz Kruczyński ist sich ähnlich wie zuvor Wilson Tanner nicht zu schade Lagerfeuerakkorde in seinen hängemattigen Lusttropfen-New-Age einzubauen und sich, vor allem auf der titelgegebenden A-Seite »Baltic Beat« gaaaaaanz viel Zeit zu lassen. Der Markt für sowas könnte dank Growing Bin, International Feel, Music From Memory et al. bald übersättigt sein, momentan aber kann ich mir wenig vorstellen wozu man sich lieber von einer Stechmücke in den Oberschenkel pämmsen lassen würde.

Mark Barrott
Sketches From An Island Volume 2
International Feel • 2016 • ab 24.99€
Als Zugabe dann noch Mark Barrott, Chef von International Feel, der nicht nur gerade erst eine exzellent verbummelte Kuschelbient-EP von Cass & Wolf Müller veröffentlicht hat, sondern auch mal wieder »Sketches From An Island« in Albumlänge präsentiert. Dagegen ist »Baltic Beat« fast schon Anarchie, so harmoniesüchtig wie sich hier die Akkorde gegenseitig in die Siesta handjobben.

Mala
Mirrors
Brownswood • 2016 • ab 62.99€
Zur Review
Weniger einfach macht es sich traditionell Mala, der dieses Mal für Brownswood Peru als nächste Inspiration nach Kuba auserkoren hat. Natürlich wird auch auf »Mirrors« mit Locals gearbeitet, auf stärker von Malas Synth- und Midi-Spielereien dominierte Tracks folgen atmosphärische Field Recordings, Panflöten, Folklore und gar peruanischer Spiritual-Jazz. Nicht immer macht die Sequenzierung dramaturgisch Sinn, aber hieraus lässt sich eine gerade auch perkussiv hochinteressante EP vierzigminütige EP editieren, ganz sicher.

John Roberts
Plum
Brunette Editions • 2016 • ab 9.99€
Was für Mala Mittel- und Südamerika ist, ist Japan für John Roberts. Schon auf dem Vorgänger »Fences« wurde die auf »Glass Eights« etablierte Melancholie durch fernöstliche Melodien und komplexere Rhythmusstrukturen erweitert, auf »Plum« findet der globetrottende Feingeist nun noch mehr Gefallen an Hasono und Co. Dass dabei manchmal seine größte Stärke etwas verloren geht, weil die Tracks sich nicht mehr diese wunderbar angekitschte Emotionalität gönnen, ist schade, aber Roberts bleibt einer der wenigen wirklichen Eigenbrötler, die weder mit zu viel Spleenigkeit, noch zu viel Eitelkeit nerven.

St. Julien
A16
Apron • 2015 • ab 11.99€
Auch bei Funkineven mag meine Blindkauf-Dichte vor einigen Jahren noch höher gewesen sein, aber ich glaube jetzt zu wissen warum einige seiner letzten Maxis nur kurz angesoundcloudet wurden ohne es je in den Warenkorb zu schaffen: Steven Julien (wie er sich mittlerweile nennt) hat an einem Album gearbeitet, das diese Bezeichnung auch verdient hat. Klassisch aufgeteilt in Tag und Nacht, von Fusion-Interludes, über detroitigen MPC-Soul, zu kakophonem Techno und drexciyanischem Tiefdruck-Electro: »Fallen« pointiert den Apron-Katalog vollkommen souverän und schlüssig.

Leonardo Martelli
Previsto
Antinote • 2016 • ab 15.29€
Anders als die beiden vorherigen Platten vollkommen erwartungshaltungsbefreit: »Previsto«, ein Mini-Album von Leonardo Martelli, das es immerhin geschafft hat, dass ich mir ernsthaft überlegt habe wie ich meine vollkommene Unwissenheit hinsichtlich der bisherigen Tätigkeiten dieses Antinote-Signings vertuschen kann. Stattdessen Live-Recherche und die Einsicht: verdammt, die letztjährige Maxi ebendort war auch schon ultragut, aber wenn wie auf der neuen LP auf einmal noch jenseitige, verrauschte Biggie-Samples in diesen vollkommen laissez faire produzierten Treibsand-House krachen, dann bilde ich mir zumindest ein doch noch rechtzeitig zu dieser Party gekommen zu sein.

Marquis Hawkes
Social Housing
Houndstooth • 2016 • ab 34.77€
Mehr Wert auf die Kehrwoche legt Marquis Hawkes, der mit »Social Housing« die undankbare Aufgabe hat seine gefühlt 85 Maxis der letzten zwei Jahre in einem überzeugenden Album kulminieren zu lassen, ohne sich zu wiederholen. Das gelingt ihm nicht immer, vielmehr scheint sich die 3LP auf Hawkes‘ zugänglichste Interpretation von gefiltertertem 90s-House zu konzentrieren, mit Todd Edwards‘ Vocalschnippselei, Sneak’schem Loopismus und einigen weniger gelungenen Versuchen sich auch bei Mood II Swing Inspiration zu holen. Nicht schlecht, aber eben auch ein bißchen redundant.

Floorplan (Robert Hood)
Victorious
M-Plant • 2016 • ab 27.99€
Ich liebe House, ich liebe Techno, ich muss an dieser Stelle aber auch mal zugeben, dass darüber zu schreiben oft das journalistische Äquivalent zur Dixieklo-Reinigung ist. Deswegen unendlichen Respekt an die Kollegen, die für die neue Floorplan bessere Stichworte auf dem Zettel haben als »ja, ballert«, »böööööh« und »Wo ist Never Grow Old?«.

Marquis Hawkes
Social Housing
Houndstooth • 2016 • ab 34.77€
Oder für die, die über das neue Audion-Album mehr zu sagen haben als: Festival-Techno für Menschen, die Festival-Techno verabscheuen. Die ganz große Geste war Matthew Dear bei diesem Moniker ja immer unangenehm, selbst Mouth To Mouth versteckte hinter jedem angedeuteten Hubschrauber-Drop noch ein Restmisstrauen vor dem alten Rein-Raus-Spiel. »Alpha« kommt eigentlich acht Jahre zu spät, gleichzeitig aber vielleicht als willkommener Reminder, dass zwischen Mnnnnnmmmml und Skrillex eigentlich genug Platz für Kompromisse wäre auf den Coachella-Bühnen dieser Welt.

MC Bomber
Predigt
Proletik • 2016 • ab 16.99€
So, zum Schluss noch Magenbitter-Rap, der das in der Griessmühle vollgekotzte T-Shirt als Wochenendstrophäe anbehält und gerade durch das Hantieren mit dem Tabubaukasten manchmal ausrechenbarer wird als er sein will: MC Bomber, das unfreiwillige neue Maskottchen der Noisey-Redaktion, hat nach zahllosen Tapes nun ein Album gemacht, ein Album das die Szene im Idealfall trifft wie damals die erste Huss & Hodn Platte, mit dem Unterschied, dass bei Bombi niemand befürchten muss, dass er zu viele kultursoziologische Bücher liest und auf einmal nicht mehr über Streuselkuchen, Mikropenen, Sexspielzeug von Orion, Rollkofferberliner und eingelegten Schweinebauch rappt. Ob man Bombers Erfolg in erster Linie als Abwehrreaktion auf die streberhafte Deutschrap-Technikmanie wahrnimmt oder als echten Paradigmenwechsel: »Predigt« ist Rap zwischen Astra Kulturhaus und AZ und musikalisch wie lyrisch zumindest so Kool Keith wie es deutscher Hip Hop nie war.