Aigners Inventur – September & Oktober 2020

09.09.2020
Der Sommer ist vorbei, die Welt ja sowieso, da wird selbst unser Kolumnist emotional. Er gibt seinem Haustier einen Namen und legt sich zu Enya in die Badewanne. Aigners Inventur ist zurück. Ganz, ganz wild.
Pop Smoke
Shoot For The Stars Aim For The Moon
Victor • 2020 • ab 10.99€
Aus Rap-Perspektive werden mir aus diesem Sommer 2020 vor allem zwei Sachen in Erinnerung bleiben. Erstens, das Video aus Brooklyn in dem der Protest in den Straßen zu Pop Smokes »Dior« mit einer alternativlosen Dringlichkeit auch in Deutschlands kartoffeligen Wohnzimmern ankam.

Freddie Gibbs & The Alchemist
Alfredo HHV Exclusive Neon Yellow Vinyl Edition
ESGN • 2020 • ab 25.99€
Zweitens, Freddie Gibbs‘ Line auf »Alfredo«, in der er nüchtern postulierte, dass auch seine Exekution im Fernsehen zu sehen sein könnte. Sowohl Pop Smokes posthumes »Shoot For The Stars Aim For The Moon« als auch Gibbs‘ Zusammenarbeit mit Alchemist sind so innerhalb weniger Monate bereits zu erschütternden Zeitdokumenten geworden, die einem die abgeklärt als Plattitüde vergessene Dead Prez Losung »It’s bigger than Hip Hop« wieder straight in die Magengrube drücken.

Nas
King's Disease Black Vinyl Edition
Caroline • 2020 • ab 32.99€
Auch das überraschend unboomerige neue Nas Album »King’s Disease« prescht mit Hit-Boy Beat direkt mit einem »Alright« Update für 2020 vor und ist auch insgesamt unverschämt relevant, für einen Rapper, der in der öffentlichen Wahrnehmung das letzte Mal als »The Departed« Easter Egg als noch aktiv wahrgenommen wurde und sonst in diesem Jahrzehnt in erster Linie als Urban Outfitters Graphic-Shirt artifiziert wurde.

East Man
Prole Art Threat
Planet Mu • 2020 • ab 22.39€
Der diskursive Ansatz von »Prole Art Threat«, dem zweiten Album von East Man, wird wahrscheinlich leider eher untergehen, obwohl sich hier über stellenweise wirklich next levelige Grime-Tek-Instrumentals hungrige MCs in ein größeres Narrativ einfügen, dessen wichtiges Anliegen es ist das britische Klassensystem multiperspektivisch zu zerficken.

Kitschkrieg
Kitschkrieg
SoulForce • 2020 • ab 21.99€
Wer hingegen mutige Statement vom Kitschkrieg Album erwartet hat, wird nicht nur von Gzuz und Bonez Features enttäuscht werden. Natürlich kann man die Jungs wie immer dafür loben, dass sie die einzigen deutschen Superproduzenten bleiben, die amerikanschische Megalomanie nicht nur verstehen, sondern auch glaubhaft almanisieren können. Aber wem auf DJ Khaled Alben die strategische Track-Besetzung schon ein Dorn im Auge ist, wird bei den hier erzwungenen Paarungen mehr als einmal cringen. Wohlwollender könnte man aber auch feststellen, dass »Kitschkrieg« das erste konsequent zu Ende konstruierte deutsche CEO-Album der Algorithmus-Ära ist. Mir ist das neue Popcaan »Fixtape« lieber.

Abdul
Delivering On Ever-Changing Consumer Demand
Tax Free • 2020 • ab 18.99€
Ein Schelm wer Böses dabei denkt, aber machen wir weiter mit »Delivering On Ever-Changing Consumer Demand« von Abdul, einem – so weit ich den Brotkrumen noch folgen kann – weiteren Max Graef Kollabo-Ding über Tax Free Records, auf dem neben kantigen Lo-Fi-Interludes und kaltschnäuzigen Drum Machine Skizzen auch zwei dankbare Midtempo-Psycho-Boogie Highlights mit Sade-Melodien für Konsumentenzufriedenheit sorgen.

Harmonious Thelonious
Plong
Bureau B • 2020 • ab 27.99€
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Auch immer eine Bank: Harmonious Thelonious. »Plong« ist der nächste Longplayer, des Düsseldorfer Workaholics (wir bleiben noch kurz im FDP-Duktus), dieses Mal für Bureau B und wie immer rhythmisch so verspielt, dass das Album zunächst selbstsicher an einem vorbeifliegt und sich – auch wie immer – erst beim dritten, vierten Durchgang so richtig greifen lässt.

Tolouse Low Trax
Jumping Dead Leaves
Bureau B • 2020 • ab 27.99€
Ebenfalls über Bureau B kommt die neue Toulouse Low Trax LP, aber da wir hierzu noch an einer Sprechstunde arbeiten, an dieser Stelle nur so viel: natürlich ist die gut.

V.A.
Alterity Colored Vinyl Edition
Houndstooth • 2020 • ab 28.99€
Während die beiden vorherigen Alben Clubmusik und deren Permutationen aus einer sehr zeitlosen Perspektive spiegeln, ist Houndstooths »Alterity« Compilation hyperzeitgeisty und dementsprechend nicht immer unverkrampft. Natürlich finden sich hier auch zahlreiche Highlights, aber vielleicht ist das natürliche Format für solch grell-dissonante Clubmusik einfach der freitägliche Bandcamp-Drop (apropos: Slikback nicht vergessen).

Al Wootton
Witness
Trule • 2020 • ab 15.99€
Kohärenter ist »Witness« von Al Wootton, den Ü-30er vermutlich noch als Deadboy kennen, und das obwohl sich Wootton hier recht furchtlos durch 35 Jahre britische Clubmusik konjugiert. Stellenweise klingt das wie ein persönliches Best-Of ohne eigene Handschrift, aber mit viel Liebe auch für die Post-Dubstep-Ära, die er selbst zumindest am Rande mitgeprägt hat, hier aber mit erwachsener Distanz neu aufarbeitet. Das eigentliche Highlight der zweiten Karriere von Wootton ist allerdings diese Maxi.

Kelly Lee Owens
Inner Song White Vinyl Edition
Smalltown Supersound • 2020 • ab 24.99€
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Ich fand »Inner Song« von Kelly Lee Owens eigentlich doof. Bisschen Torske-Pop hier, bisschen DFA-Schnodder da, Festival Techno dazwischen, John Cale Feature für die Hääääs und eine dramatische biographische Album-Genese – so ganz unrecht habe ich vermutlich gar nicht, aber irgendwie hat mir das Interview von Kollege Christoph Benkeser dabei geholfen die tweethafte Douchiness meiner ersten Reaktion zu hassen. Ein schönes Album ist ja auch nicht immer ein scheißiges Album.

Shinichi Atobe
Yes
DDS • 2020 • ab 27.99€
Musikalisch auch übelst der Beau: Shinichi Atobe, der mal wieder über DDS einen Doppelpack ohne Erklärung, aber mit ungeniertem Pastel-Cover droppt, der teilweise so keck glossy ist, wie man das Isolee, Lusine und Konsorten schon vor 15 Jahren fast nicht mehr durchgehen lassen wollte. Atobe geht dann aber natürlich mit seinem japanischen Vertrauensvorschuss besonders lausbübig um. Nein, anders: wer gar keinen Bock auf House hat, wird trotzdem Bock auf »Yes« haben.

Cygnus
Neon Flux
World Building • 2020 • ab 28.99€
Auch Cygnus scheint ein Lebensbejaher zu sein. Gut, wer sein Album »Neon Influx« nennt und generell Electro als funkverpflichtete Detroit Heritage begreift, dürfte mit teutonischer Hi-Hat-Effizienz und holländischer Kickdrum-Hektik auch wenig gemein haben. Electro, der unterhalb des Halswirbels ansetzt, ist und bleibt eine gute Sache.

Pontiac Streator
Triz
Motion Ward • 2020 • ab 23.99€
Das war’s dann auch fast schon mit Bewegung, wobei auf Pontiac Streators großartigem »Triz« doch auch immer mal wieder perkussive Schlieren um die 100 BPM durch den dubbigen, von Vocalfetzen durchsetzten Soundteppichen flickern. Schon krass wie diese Motion Ward/West Mineral – Posse einen kollektiven Sound gefunden hat, der sich trotzdem überhaupt nicht definieren lässt.

Kate NV
Room For The Moon
Rvng Intl. • 2020 • ab 24.99€
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Nach dem recht fragilen Vorgänger traut sich Kate NV wieder an Pop ran, japanischen that is. »Room For The Moon« klingt 1:1 wie ein Dip In The Pool-Album und das ist in meiner Welt ein großes Kompliment.

Julianna Barwick
Healing Is A Miracle
Ninja Tune • 2020 • ab 32.99€
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Julianna Barwick perfektioniert mit »Healing Is A Miracle« derweil diese Enya-Sache, für Menschen, die wissen, dass man sich nicht ernsthaft zu Enya in die Badewanne legen kann, die sich aber eigentlich gerne zu Enya in die Badewanne legen würden. Also endlich ein Enya-Album für MICH. Kalauer beiseite: das ist ephemeralster Erlösungsshit, wer da nichts fühlt, gibt seinem Haustier auch keinen Namen.

Senyawa & Stephen O'Malley
Bima Sakti
Ideal • 2020 • ab 26.99€
Senyawas & Stephen O’Malleys »Bima Sakti« ist der inoffizielle dritte Teil in Black Merlins Inselserie, ein ritualistischer Doom-Brocken basierend auf javanesischen Field Recordings und in seiner noisigen Barscheit frühen Zoviet France Platten nicht unähnlich.

Shackleton & Zimpel
Primal Forms
Cosmo Rhythmatic • 2020 • ab 21.99€
Ebenfalls äußerst spannend zu beobachten ist Shackletons kontinuierliche Annäherung an eine ganz eigene Form von Prog. In Kombination mit dem assoziativen Spiel von Wacław Zimpel ist »Primal Forms« das bisher akademischste und epischste Album Shackletons, mir fehlt da aber bei aller Virtuosität ein bisschen die psychotische Abgründigkeit und tieftönige Digitalität, die den Briten zu einem der größten musikalischen Genies der letzten 15 Jahre gemacht haben.

Vladislav Delay / Sly Dunbar / Robbie Shakespeare
500-Push-Up Black Vinyl Edition
Sub Rosa • 2020 • ab 19.99€
Nochmal Elefantentreffen, dieses Mal in Jamaika. Vladislav Delay hat Sly & Robbie vor anderthalb Jahren dort besucht, um ein Album zu machen. Eine Idee, die 1999 wahrscheinlich das beste Album aller Zeiten zur Folge gehabt hätte, im Hier und Jetzt ist »500 Push-Up« immer noch ein souveränst formulierter Reminder dafür warum Basic Channel und Chain Reaction ohne Kingston undenkbar gewesen wären.

M. Takara & Carla Boregas
Linha D'água
Bokeh Versions • 2020 • ab 18.99€
Ich bin ein bisschen wütend darüber, dass man in fortgeschrittenem Alter nicht mehr konnotationsfrei das Adjektiv wild benutzen kann ohne unter Langenscheidt-Generalverdacht zu stehen, weil »Linha D’Água« ist vor allem eines: WILD. M. Takara & Carla Boregas rühren für Bokeh im Komposthaufen rum und klatschen verwesenden Desert Rock auf euer Fischgrätparkett. Literally geisteskrank, Leute.