Die New York Times hat es bereits erkannt: Das Werk der Sängerin ganavya fühlt sich wie ein Gebet an. So titelte es die renommierte Zeitung Ende letzten Jahres, nachdem das bis dahin dritte Album der in New York geborenen und in Südindien aufgewachsenen Ganavya Doraiswamy erschienen war. Daughter of a Temple (veröffentlicht von Nils Frahms und Felix Grimms LEITER Verlag) stellte für die Sängerin und Komponistin den Durchbruch dar. Ein unbeschriebenes Blatt war diese da schon nicht mehr. Sie sang bereits für Jorge Pardo und Esperanza Spalding, sie trat 2023 an der Seite des enigmatischen Soul-Kollektivs SAULT auf und ist in den USA länger schon als Community-Builderin bekannt.
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2020 konnte sie mit ihrem Feature für den Puerto-Ricanischen Rapper Residente einen Latin Grammy einheimsen – der erste, der jemals an einen Text in tamilischer Sprache verliehen wurde. Im mal wieder etwas langsameren Deutschland wurde sie einer größeren Gemeinde erst durch spärlich gesäte Konzerte, ihre zweite LP like the sky I’ve been too quiet (März 2024) und ihrer Teilnahme an der Monheim Triennale bekannt.
Steigt man mit ganavya in ein Gespräch ein, wird schnell klar, wie prägend die Jahre im südindischen Tamil Nadu, wo sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr blieb, für sie waren. Ihre Sprache ist geprägt von spirituellen und religiösen Bildern. Als Kind studierte sie Harikatha, eine Kunstform, in der Erzählung, musikalisches Storytelling, Lyrik und Gesang zusammenkommen, entlang der Varkari-Pilgerroute. Sie und ihre Familie wanderten mehrere Tage lang und sangen dabei ununterbrochene Andachtsgedichte.

Spiritualität und Technik
Klang und Musik würden ihre Familie beständig umgeben, erzählt ganavya. Stets setze jemand, teilweise in wunderschöner Gedankenlosigkeit, zum Gesang an. Sie führt aus: Die tiefste Stille in meinem Leben kommt oft in Form von Ruhe, und die vollkommene innere Ruhe habe ich beim Singen gefunden. Scheinbar ein Widerspruch, doch lässt sich tief in ganavyas Stücke mitnehmen, gewinnt man Verständnis für den Gedanken, dass auch im Gesang Stille liegen könne. Sich wiederholende Mantras, offene Stimmungen, ein natürliches Strömen umgibt die Lieder.
Im beständigen »Stream of Sound« findet ganavya Inspiration. Und dieser Fluss geht weit über die Ufer des Musizierens hinaus: So wirke auch der Klang der Flugzeugmotoren im Anflug auf Lyon auf sie ein; der Halbtonschritt, den dieser falle, sobald der Landeanflug beginne, sei von ihr nicht unbemerkt geblieben, so schreibt sie, kurz bevor sie in Deutschland beim enjoy Jazz in Heidelberg auftreten wird.
»Wenn Musik Hingabe ist, und Hingabe wiederum ein (Gottes-)Dienst ist, wenn Heilung bedeutet, dass sich jemand der Liebe zuwendet, dann kann Musik doch auch Heilung sein.«
Ganavya
Dort präsentiert sie dann die Lieder, die sie für Daughter of a Temple, aber auch für das in der Zwischenzeit – im Mai – erschienene Album Nilam schrieb. Die beiden LPs stehen zueinander wie zwei Geschwister: Vom gleichen Stamm, aber doch mit sehr eigenständiger Ausprägung. Daughter of a Temple war eine »Studie der Musik Alice Coltranes«, wie ganavya erklärt. Eine persönliche, aber auch gemeinschaftlich erlebte Reise zum Mittelpunkt des Spiritual Jazz. So abwechslungsreich wie das Werk der später als Swamini Turyasangitananda lebenden Coltrane selbst. ganavya zeigt sich indes zurückhaltend, sich selbst im Spiritual Jazz zu verorten: »Ich weiß nicht genug über die Worte ›Spiritual‹ oder ›Jazz‹, aber ein paar der ›Teacher‹ der Musik hatten ein Verhältnis hierzu.«
So seien Spiritualität und Jazz beides Techniken und Technologien, um Herzen und Gedanken zu befreien. Esoterisch wird ganavya dabei nie, so glaubt sie beispielsweise nicht an die oftmals versprochene in diesem Kontext versprochene »Heilung« – dieser Begriff allein verschrecke sie. Danach wägt sie länger ab, lässt den Gedanken nochmal ein paar Wendungen und Kurven nehmen, und schließlich sagt sie: »Wenn Musik Hingabe ist, und Hingabe wiederum ein (Gottes-)Dienst ist, wenn Heilung bedeutet, dass sich jemand der Liebe zuwendet, dann kann Musik doch auch Heilung sein.«
Ingesamt 30 Musiker*innen haben an Daughter of a Temple Album mitgewirkt. Der englische Guardian ernannte es zu einem der 10 besten (Global) Alben des Jahres. Nilam hingegen ist viel konzentrierter, weniger auf das gemeinschaftliche Erarbeiten ausgelegt, intimer. Im Trio mit Charles Overton und Max Ridley aufgenommen, co-produziert von den LEITER-Honchos Frahm und Grimm, entstand eine Präsentation von Songs, die über Jahre entstanden sind und sich im Live-Moment mehrfach weiterentwickelt haben.
ganavya, ob in der großen Gemeinschaft oder in der kleinen Gruppe, vermittelt in ihrer Sprache und Musik eine besondere Wärme und Weite. In dieser ist Liebe eine Vokabel, die man immer wiederfindet. Drauf angesprochen, verliert sie ausnahmsweise nur wenige Worte: »Liebe ist zentral fürs Leben.« Auch eine Form von Gebet.