Das Kind ist da, der Zeitgeist egal, das Radio läuft: Nostalgie ist eine Falle. Jenseits der 30 wird sie für viele nach und nach zum letzten Bezugspunkt in der Pop-Kultur. Das kennt wahrscheinlich auch US-Sänger und -Produzent Dijon Duenas, 33 Jahre alt und Sohn eines mikronesischen Vaters und einer afroamerikanischen Mutter, der unter dem Künstlerprofil Dijon auftritt.
Just erschien sein zweites Album Baby!, das seinem Neugeborenen gewidmet ist. Der Baltimorer hybridisiert darauf R&B, Americana und den Internet-Pop des letzten Jahrzehnts (und Babylaute seines einjährigen Sohnes). Baby! gilt im internationalen Pop-Fachbereich als Kandidat für das Album des Jahres.

Baby Clear Vinyl Edition
Der Sänger und Produzent erzählt, dass er in seiner Kindheit und Jugend häufig umgezogen ist – auf Militärstützpunkte in den USA, Europa und Asien. Wahrscheinlich kann er deswegen mit Nostalgie so wenig anfangen, könnten Küchenpsychologen jetzt vermuten. Aufgewachsen im Download-Zeitalter Anfang der Zweitausender, entwickelt Dijon ein breitflächiges Musikverständnis. Voodoo von D’Angelo zählt er zu seinen Lieblingsalben, aber auch Blue von Joni Mitchell. Zum Beats-Machen kam er durch Freunde und »weil man das alleine machen kann«, wie er sagt. Bei so vielen Umzügen sei das praktischer gewesen.
Bevor er 2016 letztlich in die Musikhauptstadt Los Angeles zieht, droppt er mit Abhi Raju ein paar Alternative-R&B-Songs. Eine Weile hängt er auch mal bei Brockhampton im Studio rum. Die Ausprobierphase endet mit Absolutely vier Jahre später schier abrupt, als Dijon mit einer Art Neo-Americana-Album solo debütiert. Fasziniert von dem Prozess, Lieder mit Akustikgitarre zu schreiben, wollte er verstehen, warum Country und Singer-Songwriter-Musik als »weiß« gilt und wie er diese Sprache als POC unironisch übernehmen kann. Die Codes hat er bald geknackt und das Internet schnell an seinen Lippen. Auf Baby! erweitert er nun jenes Format um Intimität und Poesie.

Für immer unfertig
Dijons Musik ist sprunghaft. Seine Songs sind oft nicht linear, wirken skizzenartig und geschichtet. Auf Another Baby! etwa kollidieren 80er-Synths mit Beatbox-Loops und Wu-Tang-Samples. Ideen sprudeln, flackern, fallen zusammen und bauen sich wieder auf. Manche Akkorde fungieren eher als Störgeräusche, der Mix ist chaotisch. »Ich weiß oft nicht, wann ein Song fertig ist«, sagt er, »aber oft fühlt sich das Unfertige ehrlicher an«. Ja, es frankoceant hier gewaltig, princet sowieso – aber es bonivert auch ein bisschen, für den Dijon schon als Supportact auftrat.
Oft verfremdet oder murmelt Dijon auch seine teils selbstironischen Lyrics. Die Gesangsperformances wirken zittrig. Es klingt so, als hätte jemand vergessen, das Mikro im Proberaum auszuschalten. Dijon trägt die Vision der Future-R&B-Ära um Weeknd, Kelela oder SZA ins TikTok-Jahrzehnt. Streaming-Plattformen und Algorithmen deprimieren ihn allerdings, sagt er. Er sei kein Fan von glatt-polierten Writing-Camp-Projekten, die er »Pitch-Songs« nennt, und sträubt sich seine Musik Playlist-tauglich zu machen. Dies gepaart mit seinem quasi nicht-vorhandenen Auftreten auf Social Media sowie der Produktionsweise seiner Alben – One-Take-Live-Aufnahmen in unprofessioneller Umgebung mit diversen Freunden – machen ihn zur Gegenthese des Streamingzeitalters. Dijon ist der Glitch in der Musik(industrie)-Matrix. Denn seine Tracks gehen trotzdem viral.
»Ich will mein eigenes Kid A, mein Voodoo, mein Laughing Stock machen.«
Dijon
Mit dem Singer-Songwriter Mk.Gee hat Dijon aktuell die perfekte Ergänzung in diesem Strudel aus musikalischem Live-Brainstorming gefunden. Dijon beschreibt Mk.Gee als jemanden, der nicht dominiert, sondern Raum schafft – ein Partner wie Chad für Pharrell oder Jimmy Jam für Terry Lewis. Als Team sind sie mittlerweile nicht mehr nur unter sich, sondern auch auf Releases von Charli XCX, Bon Iver und zuletzt Justin Bieber vertreten. Eine Welt, in die er eh immer wollte.
Dijon ist auf dem Weg zum A-Liga-Producer, dessen Klangwelt dabei tatsächlich eine neue Ästhetik sucht. »Ich will mein eigenes Kid A, mein Voodoo, mein Laughing Stock machen« hat er mal gesagt, »ein Album, das eine neue Sprache erfindet«. Statt Nostalgie ist es wohl die Sehnsucht nach etwas, das es noch nicht gibt, was ihn antreibt. »Ich weiß gar nicht, ob ich Musik machen will, bis ich wieder anfange«, sagte er einmal in einem Interview. »Vielleicht ist das mein Problem: Ich kann nichts halb machen.«
