Der Himmel über Kreuzberg ist an diesem Maiabend von dichten Wolken überzogen, durch die allmählich die Abendsonne dringt. Der Regen hat nachgelassen, doch die Luft bleibt elektrisch. Berlin vibriert, während sich im Festsaal Kreuzberg eine besondere Spannung aufbaut – keine aufgeregte, sondern eine tiefgreifende, schwer zu benennende Erwartung. Es ist der dritte Abend des diesjährigen XJAZZ Festivals und auf dem Line-up stehen zwei Namen, die den Begriff Genre eher als Einladung zum Widerstand verstehen: Moor Mother und Lonnie Holley.
Die beiden treten nicht allein auf, sondern gemeinsam mit einer Band. Aus Gitarre, Schlagzeug und Keyboards entsteht ein Ensemble, das dem Geschehen eine rohe, vibrierende Körperlichkeit verleiht. Lonnie Holley, der 75-jährige Künstler aus Alabama, sitzt an den Tasten, verborgen hinter einem bestickten Tuch, das seine Keyboards dem Publikum entzieht – als würden die entstehenden Klänge nicht gespielt, sondern aus Stoffen gewebt sein. Seine Stimme ist kräftig und zugleich brüchig, voller Geschichten und gelebter Zeit. Moor Mother, alias Camae Ayewa, ist sein komplementäres Gegenüber. Sie ist Dichterin, Musikerin und Aktivistin. Ihre Stimme ist ihr Medium, ihr Instrument und ihr Widerstand. Mit ihr füllt sie den Raum und lässt Vibration, Dringlichkeit und Wucht aufkommen.
Zwischen Sound, Poesie und Protest
Was folgt, ist keine klassische Show, sondern eine Zeremonie. Die Band spielt eng, fast telepathisch. Der Drummer treibt die Stücke mit schnellen, prog-jazzigen Impulsen voran, während sich die Gitarrenriffs in freier Klangmalerei entfalten – ein dichtes Gewebe aus Sound, das zugleich strukturiert und flüchtig wirkt. Holley malt mit Akkorden, Ayewa brennt ihre Texte ins Mikrofon – Texte, die nicht einfach konsumiert, sondern durchlebt werden wollen.
Die Musik pendelt zwischen Free Jazz, Rock, Noise und futuristischer Sound-Poesie. In vielen Passagen lodert Energie, während in den stilleren Momenten Holleys Stimme fast wie ein Gebet klingt. Dann bricht Ayewa wieder mit fragmentarischen Spoken-Word-Codes hinein, die politisch, klug und herzergreifend sind.
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Das Publikum genießt mit geschlossenen Augen und wippendem Körper. Was Moor Mother, Lonnie Holley und ihre Band an diesem Abend auf die Bühne bringen, hat keinerlei subtile Unterhaltungsambitionen. Diese Musik will an das, was war, erinnern – und an das, was sein könnte. Und genau darin liegt ihre Kraft. Sie ist Protest, weil sie nicht vergisst. Und schön, weil sie trotzdem nicht auf Hoffnung verzichtet.