Records Revisited: Herbie Hancock – Thrust (1974)

06.09.2024
Nach seinem Platin-Hit »Head Hunters« konnte Herbie Hancock ein Jahr später auf dem zu Unrecht übersehenen »Thrust« erneut beweisen, dass zugänglicher Fusion-Jazz nicht auf Kosten von Kreativität geht, sondern diese bloß anders kanalisiert.

Im Schatten eines Riesenhits zu stehen, ist das Schicksal einiger wichtiger Alben großer Künstler. Beim Pianisten Herbie Hancock hatte dessen zwölfte Studioplatte, »Head Hunters«, im Jahr 1973 für eine Sensation gesorgt. Der stilistische Wechsel zu einem übersichtlicher geordneten Funk nach kommerziell mäßig geglückten Fusion-Innovationen wie »Sextant« brachte Hancock neben dem finanziellen Erfolg und größeren Publikum gleich noch einen Rekord ein: »Head Hunters« konnte sich zwei Jaher lang als das meistverkaufte Jazzalbum bisher behaupten.

Mit seiner Band Head Hunters nahm Hancock im folgenden Jahr »Thrust« auf, wieder ein Album mit vier Titeln und in fast derselben Besetzung. Einzig am Schlagzeug saß jetzt Mike Clark, er löste Harvey Mason ab. Was dem Unternehmen keinesfalls geschadet hat: Der mit Paul Jackson, dem Bassisten der Band, befreundete Clark erwies sich in seinem Funkverständnis als so versiert, dass er sich mit seinen Beiträgen zum Album den Ruf als einer der besten Schlagzeuger auf diesem Gebiet ertrommelte.

Hancock verfolgte den mit »Head Hunters« eingeschlagenen Weg dabei nicht bloß weiter, sondern vertiefte und verfeinerte ihn. Mit hochfrequent schwingenden Ergebnissen: Besonders in »Actual Proof« lässt die Band einen komplexen Groove mit rasender Geschwindigkeit entstehen, ansteckend verfrickelt, an der Grenze zur Atemlosigkeit, ohne die gebotene Lässigkeit zu gefährden. Wie Clark in seinen Linernotes zur Wiederauflage des Albums von 1997 anmerkte, musste er seine Vorstellung eines passenden Beats damals gegen den Willen des Produzenten durchsetzen. Das war in dem Fall David Rubinson. Dieser habe der Band einen Take bewilligt, um ihn zu überzeugen. Der auf diese Weise verewigte Rhythmus von »Actual Proof« insbesondere war es, der Clark vor allem später bei anderen Schlagzeugern großen Respekt einflößen sollte.

Schubrakete mit Geheimwaffe

Hancock selbst spielt auf »Thrust«, dessen Titel, »Schub«, programmatisch zu verstehen ist, neben einem Fender Rhodes ein Clavinet und vier Synthesizer aus dem Hause ARP, darunter den ARP Odyssee und den ARP 2600. Diese Synthesizer kommen noch farbenreicher zum Einsatz als das elektronische Arsenal zuvor auf »Head Hunters«. Das Cover von »Thrust« mit Hancock im Cockpit eines Raumschiffs gibt seinen futuristischen Input einigermaßen treffend wieder. Aus heutiger Sicht mag man diese optische Gestaltung aber wohl am ehesten als trashig bezeichnen.

Fragen nach Ausverkauf durch Kommerzialisierung dürften sich ohnehin längst nicht mehr so verbissen stellen. Wobei, wer darauf bestehen möchte…

Was der Platte, die in den Billboard-Charts mit Platz 13 immerhin gleichauf mit »Head Hunters« rangierte, andererseits fehlte, war ein Hit wie ihn »Head Hunters« mit »Chameleon« hatte. Dafür besitzt »Thrust« eine echte Geheimwaffe. Denn »Butterfly« ist die vermutlich schönste tropisch-schwüle Slo-Mo-Nummer Hancocks überhaupt. Mit einer Melodie, die der Saxofonist Bennie Maupin wie Schlingpflanzen allmählich hervorsprießen lässt, und einem Auftakt, dem der Perkussionist Bill Summers mit seinen Conga-Glissandi ein absolut notwendiges Element verleiht, das man, wenn man es einmal gehört hat, von der Nummer nicht mehr wegdenken kann. Vertrackt verschleppt, verführerisch verlangsamt, mit Improvisationen, die sich für ihren Aufbau Zeit nehmen, die Ideen beim Entstehen beobachten. Allein schon dafür lohnt die Erinnerung oder Entdeckung.

»Thrust« ist aus der Rückschau ein erneuter Beleg für Hancocks sehr eigenen Beitrag zur Entwicklung des Jazz, die 50 Jahre sind der Platte gut bekommen. Auch wenn es diesmal mehr um Details zum Gestalten des neuen Entwurfs ging. Fragen nach Ausverkauf durch Kommerzialisierung dürften sich ohnehin längst nicht mehr so verbissen stellen. Wobei, wer darauf bestehen möchte…

Dass Hancock bei seinen Neuerungen in den Siebzigern nicht stehenblieb und er später sogar HipHop und die Anfänge von Techno in seine Vision von Jazz einfügte, demonstrierte er 1983 mit »Rockit«. Ein weiterer Hit. Zu einigen Teilen auch dank des Maßstäbe setzenden Videos, das seinerzeit auf dem zwei Jahre zuvor an den Start gegangenen Musiksender MTV lief. Anders als Letzterer ist Hancock übrigens noch aktiv.