Records Revisited: Plastikman –Musik (1994)

06.12.2024
Richie Hawtin entwickelt auf dem zweiten Album seines Alter Egos Plastikman eine einzigartige Fusion aus Acid und Minimal Techno, Dancefloor-Tauglichkeit und dunkelgrauen Atmosphären. Hier ist Zeitlosigkeit keine hohle Phrase.

Die Entwicklung war vorbestimmt, könnte man meinen. Richie Hawtin musste Techno-Produzent und -DJ werden. Im Alter von neun Jahren zieht er mit seinen Eltern aus seiner Heimat England in einen Vorort von Windsor in der kanadischen Provinz Ontario. Die Stadt ist unmittelbar an der Grenze zu den USA gelegen. Nur ein paar Kilometer weiter, jenseits des Flusses, liegt Detroit.

Die Stadt hat wirtschaftlich schon bessere Zeiten erlebt, aber kulturell ist sie wieder einmal ganz weit vorne. Nach Jazz, Blues und Motown Soul in den vorangegangenen Jahrzehnten ist Detroit Ende der 80er-Jahre wieder das Zentrum einer neuartigen Musik: Techno. Der jugendliche Hawtin erlebt in Echtzeit, was sich dort musikalisch entwickelt, ist fasziniert von der neuen Musik, die in den Clubs in Detroit gespielt wird, sieht legendären Techno-DJs wie Derrick May bei der Arbeit zu und kommt ins Gespräch mit ihnen. Nur ein paar Jahre später wird der britische Kanadier Richie Hawtin selbst zu einem der wichtigsten Protagonisten der zweiten Welle des Detroit-Techno.

1993 veröffentlicht Hawtin unter dem Projektnamen F.U.S.E. sein erstes Album. »Dimension Intrusion« ist Teil der Serie »Artificial Intelligence« des britischen Warp-Labels. Wenig später bringt er »Sheet One« heraus, das Debüt seines bekanntesten Alter Egos Plastikman, ein Album zwischen Acid- und Minimal Techno, das das Genre auf einen neuen Stand bringt und dessen Echo noch Jahrzehnte später in den Clubs nachhallt. Als im November 1994 das zweite Plastikman-Album »Musik« erscheint, ist es gleichzeitig Anknüpfungspunkt und Umdeutung von »Sheet One«. Während Plastikman auf dem Debüt technoiden Minimalismus mit maximalen psychedelischen Effekten verbunden hat, wird er auf »Musik« konkreter. Es ist noch alles da, die Acid Lines, die verzwirbelten Percussions, aber Plastikman setzt die Bausteine so ein, dass sie nicht nach Vergangenheit, sondern nach der Zukunft klingen.

Versuch der Zeitlosigkeit? Zeitlose Versuchung!

Hawtin nimmt das Album im »UTK Studio« in Windsor auf. Das hört sich sehr professionell an. Aber UTK ist die Abkürzung von Under The Kitchen, weil er genau da, im Keller seines Elternhauses unter der Küche, sein Heimstudio eingerichtet hat, wo die Mehrzahl seiner frühen Aufnahmen entsteht. Was »Musik« so einzigartig macht, ist die Kombination von gebremstem Acid-Techno, ultraminimalistisch gedachtem Detroit Techno mit Funkyness und Dancefloor-Tauglichkeit und Atmosphären, die nicht unbedingt zum Wohlfühlen gedacht sind. Das Grundrezept der elektronischen Tanzmusik mag sich von Kraftwerk bis Phuture nicht groß verändert haben, aber Plastikman lässt die Zutaten in der Vielfarbigkeit seiner eigenen Musik aufgehen, so dass sie nicht mehr zu identifizieren sind.

In den Album-Credits, die in winziger Schrift um die Ränder des Backcovers laufen, ist ein Satz versteckt: »Just because you love chocolate cake, you don’t eat it every day«. Das kann als Hinweis oder auch als Rechtfertigung gedeutet werden, dass »Musik« zwar auch ein schmackhaftes Dessert sein soll, Hawtin aber das Rezept dafür so verändert hat, dass es sich von denen seiner Mitbewerber unterscheidet.

»Just because you love chocolate cake, you don’t eat it every day«.

Ernährungtipps vom Plastikman. Inschrift auf dem Backcover von »Musik«

Der Track »Plastique« zum Beispiel entwickelt im Verlauf von 13 Minuten aus einem furztrocknen Minimalismus eine Funkyness, die eindeutig auf den Dancefloor ausgerichtet ist. »Fuk«, braucht nur eine Bassdrum, um die sich mysteriös konstruierte Percussions schlängeln, um die maximale Wirkung zu erzeugen. Und einen Track wie die perkussive Ethno-Extravaganz »Ethnik« hat man vorher noch nicht gehört.

Die vergangenen zehn, fünfzehn Jahre haben gezeigt, dass selbst der einst so zukunftsorientierte Techno vor retromanischen Tendenzen nicht sicher ist. Um alter Musik den Anschein der Gegenwartstauglichkeit zu geben, wird gerne das Prädikat »zeitlos« verwendet. Dass es im Fall des zweiten Plastikman-Albums keine hohle Phrase ist, zeigt eine Begebenheit von Anfang des Jahres. Da lief der Track »Kriket« auf der Frühjahr-Sommer Modenschau von Prada Men. Wenn ein Modedesigner wie Raf Simons, der qua Jobbeschreibung seiner Zeit immer voraus sein muss, einen 30 Jahre alten Track spielt, dann muss er ja zeitlos sein.