Bevor Tomin den Mund öffnet, schließt er die Augen. Es ist, als würde der 27-Jährige aus Brooklyn den nächsten Satz zuerst auf seine Tauglichkeit scannen, bevor er ihn freigibt. »Wörter sind nichts anderes als Ausdrucksmuster, die aus dem Nichts entstanden sind«, sagt er. Wüsste man es nicht besser, man könnte hinter dem gerade auf International Anthem veröffentlichten Musiker auch einen Literaturnobelpreisträger vermuten.
Tomins Album »Flores para Verene / Cantos para Caramina« ist eine Sammlung von sogenannten Vignetten. Kurze Stücke, die er auf Trompeten und Klarinetten eingespielt hat. Oder: Kleine Cover-Hommagen, mit denen er an große Jazz-Meister erinnert. Tomin hat sie in einer Ausnahmesituation ausgenommen: Damals stand die Welt für ein paar Momente still. Kurz zuvor war mit seiner Großmutter der wichtigste Mensch in seinem Leben gestorben.
Heute sagt Tomin, dass seine Musik aus Wut und Trauer hervorgehe, die man empfindet, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Diese Gefühle seien in Melancholie übergegangen. Und die stecke nun in seiner Musik. »Leider«, fügt Tomin an. »Aber diese schwere, traurige Stimmung ist angemessen. Es ist, was ich durchlebt habe. Und wenn ich es heute höre, entdecke ich darin jene emotionale Tiefe, die ich darstellen wollte. Hoffentlich schrecke ich niemanden damit ab.«
Lebensforschung
Als Flöten-, Trompeten-, Klarinetten- und Posaune-versierter Musiker hat sich Tomin in den vergangenen Jahren in die Kontaktlisten der New Yorker Impro- gespeichert. Man ruft ihn an, wenn experimentell durch Blech wie Holz geatmet werden soll. Untertags sitzt Tomin allerdings vor dem Computer. Er ist ausgebildeter Bioinformatiker. Das ist so kompliziert, wie man es sich vorstellen muss, aber ja: Manchmal trägt Tomin auch einen weißen Kittel.
»Ich habe bald gemerkt, dass es nicht ausreicht, nur aufzuschreiben, was ich fühle. Man muss es auch wahrnehmen.«
Tomin
Diese Arbeit erscheint wie das rationale Gegengewicht zu seinem emotionalen Ausdruck. Was sie verbindet, mag pathetisch klingen, aber stimmen: Tomin forscht dem Leben hinter. Häufig auch in Wort und Schrift, denn: Das Schreiben steckt schon lange in ihm. Damals, in der Schule, sei er in einem Nachmittagskurs über Lyrik gelandet. Erste Gedichte entstanden. Ein großes Glück war gefunden.
»Allerdings habe ich bald gemerkt, dass es nicht ausreicht, nur aufzuschreiben, was ich fühle. Man muss es auch wahrnehmen. So bin ich zur Musik gekommen.« In seinem Kopf träumte Tomin vor einem großen Schlagzeug. Geworden ist es ein pädagogischer Kompromiss: die Djembe, eine Trommel aus Westafrika. Dass sich daraus keine Liebesbeziehung entwickeln wollte, war weniger dem mangelnden Interesse am Groove geschuldet. Es war viel eher eine Frage der Ehre.
Eine Frage des Charakters
Das Talentprogramm seiner Schule habe ihn nämlich als Posaunist in einer Klassenkapelle vorgesehen. »Ein schönes Instrument«, so Tomin. »Aber auch das schwierigste.« Weil sich seine Freunde allesamt an »Instrumenten mit Knöpfen« probierten, fand er aber zu einem gesunden Wettbewerbsgedanken. Übrigens mit Erfolg. »Als ich die Highschool abschloss, kaufte ich mir eine Trompete und eine Klarinette. Daraus wurde eine Tradition. Seitdem kaufe ich mir alle zwei, drei Jahre ein neues Instrument.«
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Inzwischen könnte Tomin ein mittelgroßes Blasorchester ausstatten. Er behält sich die Bedienung von Alt-Klarinette bis Bassposaune aber seiner »Skizzenarbeit« vor, wie Tomin sagt. Seine Stücke seien schließlich Stimmungen. Oft brauche es nicht mehr als ein Instrument, als sie einzufangen. Eine Auswahl sei dennoch wichtig: »Blechbläser klingen zwar allesamt organisch, allerdings haben sie auch alle ihren eigenen Charakter.«
Tomin holt tief Luft. »Ja, es geht dabei vor allem um die Atmung«, die verändere sich ja permanent. Dabei denke man selten darüber nach, wie man atmet. Das Spielen von Bläsern habe ihn (»ganz ohne Esoterik, bitte«) allerdings achtsam werden lassen – für Situationen, die er mit der Luft in seiner Lunge kontrollieren kann. Deswegen könne er seinen Atem zwar auch nicht ewig anhalten. »Aber« – Tomin schließt seine Augen – »es ist schön, sich und seinem Ausdruck dadurch näherzukommen.«