Review

Dee Dee Bridgewater

Afro Blue

Mr Bongo • 2020

Die Stimme hat ja etwas Paradoxes. Einerseits ist sie das unmittelbarste musikalische Ausdrucksmittel, das man als Mensch so zur Verfügung hat, andererseits kann sie da, wo sie virtuos eingesetzt wird, als Instrument besonders artifiziell wirken. Opern mit ihren Koloraturarien sind schließlich nicht für jede oder jeden was. Auch bei Jazzgesang entgehen nicht alle Künstler der Falle, dass sie ihre technischen Fähigkeiten in einer Weise ausstellen, die mitunter an Zirkusartistik erinnert. Kurze Zeitreise in den Frühling 1974. Die noch 23-jährige Sängerin Dee Dee Bridgewater hat ihr Debütalbum »Afro Blue« veröffentlicht. Ausschließlich in Japan, wo die Platte auch, unter Beteiligung US-amerikanischer wie japanischer Musiker, aufgenommen wurde. Aus heutiger Sicht wundert man sich, dass sich damals anscheinend kein Label in den USA fand, um dem Jazz- und R&B-Publikum dort die Musik ebenfalls erschwinglich zugänglich zu machen. Denn auf »Afro Blue« demonstriert Dee Dee Bridgewater was nicht allzu viele können: Sie setzt ihr Können so ein, dass man zwar gut hören kann, was sie alles mit ihren Stimmbändern und den übrigen erforderlichen Körperpartien anzustellen vermag, doch das tut sie so locker, dass es völlig natürlich klingt, sie improvisiert eben beim Singen, wie das im Jazz üblich ist. Unterstützt von einem zurückhaltend engagierten, wunderbar die Balance zwischen Expressivität und Eleganz wahrenden Ensemble, ist sie sogar immer dann am stärksten, wenn sie ihre Stimme ganz in den Dienst des Songs stellt. Die ruhigen Nummern »Love From the Sun« und »People Make the World Go Round« gehören denn auch zu den Höhepunkten dieser insgesamt sehr hoch oben einsteigenden Platte, die das britische Mr Bongo mit seinem Reissue jetzt zum Glück in Erinnerung ruft.