The Oracle hat ein literarisches Vorbild: Samuel Beckett. In dessen Theaterstück »Not I« (1973) steht eine Schauspielerin mit schwarz bemaltem Gesicht auf einer komplett dunklen Bühne. Nur der Mund – ein Mund ohne Körper – ist sichtbar und hält einen »Stream-of-Consciousness«-Monolog. »Not I« ist ein einschneidendes Stück, das den Gang des Bewusstseins als Schrecken erfahrbar macht. Auf dieses Vorbild spielt Lea Bertucci nicht nur mit der Wahl des Covers an. Auch lyrisch ahmt The Oracle die fragmentarischen Assoziationsketten Becketts nach. Dabei ist das akusmatische Album der New Yorker Komponistin unverkennbar an die Situation in den USA rückgebunden. »They have come for our neighbors«, lässt uns Bertucci mit verzerrter Stimme im Schlusstitel wissen. Jener, so schreibt die Komponistin in einem Instagram-Post, sei »eine Antwort auf die ICE-Kidnappings«.
Doch das ist kein politischer Aktionismus. The Oracle ist ein ruhiges, wenngleich beunruhigendes Drone-Album, das als »Call to Action« völlig ungeeignet wäre. Spannend ist es vielmehr, weil es die psychischen Effekte des Autoritarismus hör- und fühlbar macht. The Oracle ist geronnene Angst. Es exemplifiziert das Gefühl des »Doomscrollens« – einer assoziativen Kette an Schrecken ausgesetzt zu sein, die anonym und körperlos zu uns dringen. Beckett könnte stolz sein.

The Oracle