Review

Richard H. Kirk

Never Lose Your Shadow EP

Minimal Wave • 2014

In den heutigen Zeiten digitaler Workstation-Pakete fällt es oft schwer, Gründe und Bedingungen dafür auseinanderzuhalten, dass früher elektronischer Pop nicht selten ein verstörendes Element hatte. Das Rohe und Fehlerhafte, das die damaligen Produktionsweisen stets begleitete, hat sich Richard H. Kirk musikalischer Mastermind von Cabaret Voltaire immer gern zu nutze gemacht. »Never Lose Your Shadow«, das auf dieser EP nach über 30 Jahren endlich sein Vinyl-Debüt erfährt, bringt schmerzhaft zu Bewusstsein, was technische Erweiterung und Optimierung an Ausdruckspotential rauben kann. Seine kantige Kraft bezieht es jedoch nicht nur aus dem Ungeschliffenen. Richard H. Kirk führt hier eine einzigartige Verbindung ein von kriechend frostigem Funk aus trockenen Sequenzen und scharfen Riffs, krachigen Querschlägern und dazu einer Psychedelik, die Dub-Kenner Richard H. Kirk aus dessen Studioverfahren destillierte, die in den folgenden Jahren die Cabaret Voltaire-Produktionen von »Crackdown« bis »Drinking Gasoline« prägen sollte. Noch einmal schlittert sein Saxophon durch die Betonschluchten, aber wir bekommen auch sogar seine Stimme zu hören: Ein Timbre, das erst an den Samt von OMDs Andy McCluskey anknüpft und sich dann doch mit zynischem Groll so lang in einen Track ohne Ausweg bohrt, bis er zerbricht. Auf der Rückseite beweisen dann drei Stücke, die zwischen 1978 und 1987 entstanden, dass Richard H. Kirk die Experimente mit Tapeaufnahmen, die die Anfänge von Cabaret Voltaire bestimmten (und aus denen Ex-Bandkollege Chris Watson seine ganz eigene Fieldrecorder-Karriere entwickeln sollte) nie ad acta gelegt hatte: Kombinationen aus simpler Drumbox, gefundenen Vocal-Spuren und dumpf postindustriellen, effektüberladenen Atmos, die hier an Pyrolator und den THX-1138-Soundtrack erinnern, und aus denen später die Traumwelten seines großartigen »Virtual State«-Album wachsen sollten. Nach retrospektiver Compilation auf Mute und Revival-Auftritt beim Berliner Atonal-Festival ist dieses Vinyl, zu dem man Minimal Wave beglückwünschen darf, die Krönung des Cabaret Voltaire-Sommers.