Die Frage lautet nicht, wie dieses Jahr in die Geschichte eingehen wird. Sondern ob. Wir zumindest hatten das Gefühl, im längsten Giorgos-Lanthimos-Film aller Zeiten gefangen zu sein und einem zunehmend eskalierenden Plot dabei zuschauen zu müssen, ins Nirgendwo zu gehen .
Aber hey, da war auch … Musik! Jede Menge davon, mehr denn je, und manche war sogar richtig gut. Die Redaktion und die Autor:innen des HHV-Mag haben satte 216 Platten vorausgewählt, die das Format des Albums ernst genommen und dem Diskurs etwas Neues hinzugefügt haben; Alben, die einen Tag, eine Woche, einen Monat oder sogar ein Jahr zu retten vermochten. Diese Auswahl auf 50 Schallplatten zu kondensieren, die jetzt und in den kommenden Jahren Aufmerksamkeit verdienen, fiel nicht leicht. Aber inmitten all des Chaos sind Luxusprobleme wie diese die besten überhaupt. Gehen wir also nochmal durch dieses verfluchte Jahr, das zumindest passabel klang.
So viel Welt, so viel Leben
Die folgenden 50 LPs kommen von Twens ebenso wie vom 101-jährigen Marshall Allen. Sie nehmen uns nach Bogotá (Los Pirañas), ins iranische Kurdistan (Mohammad Mustafa Heydarian), in den Libanon (Sanam) oder nach Taipeh/in den Kosmos (Dope Purple) mit; sie erneuern unsere Hoffnung in die Rockmusik (Anika et al.), erweitern die Grenzen des Rap (s/o billy woods und Clipse) oder beweisen, dass der Dancefloor noch nicht tottiktokifiziert wurde (Carrier, Slikback usw.). R’n’B geht’s gut (danke, Orange Blood und Xexa), die Weirdos (Annea Lockwood! Joss Turnbull!) sind immer noch am Start. Und dazwischen und darüber hinaus gibt es noch viel mehr, das nicht verpasst werden sollte. Und ja, ey, dazu gehört auch die neue von Rosalía. Kristoffer Cornils

Pat Thomas steht zu jedem Zeitpunkt auf dem Zenith, die Leute begreifen das aber erst jetzt. Vor allem sein Quartett أحمد [Ahmed] sorgt für Aufsehen, was nicht selbstverständlich ist – die Kompositionen von Ahmed Abdul-Malik, die Thomas zusammen mit Joel Grip (Bass), Antonin Gerbal (Drums) und Seymour Wright (Sax) interpretiert, wurden nicht für Thomas' Instrument, das Klavier, geschrieben. Tatsächlich klingt ihre Interpretation des Albums Jazz Sahara deutlich anders als das Original – entropischer, unberechenbarer und letztlich energiegeladener. Das eine Jazz-Album, das dieses Jahr alle hören müssen.
Kristoffer Cornils
Mit Abyss hat die deutsch-britische Musikerin Anika (Annika Henderson) ein politisches Album geschaffen - eines, das sich keinen Konventionen beugt, sondern aneckt, im besten aller Sinne. Abyss klingt rauer als seine Vorgänger, erinnert an Grunge und Alternative Rock der 90er Jahre. Auch die Themen, die die Künstlerin anspricht, sind rau: Fake News, der zunehmende Rechtsrutsch, diverse gesellschaftliche Missstände. »Grunge hat sich nicht zurückgehalten, es war realer, und das ist, was ich im Moment brauche«, sagte Anika dazu im Interview. Es sei ok, einfach mal mürrisch zu sein. Grund genug dafür gibt’s auf der Welt ja auch - umso besser, dass es Alben wie dieses gibt.
Nikta Vahid-Moghtada
Tether ist ein Jazz-inflektiertes, Soul-getränktes Torch-Song-Folk-Album und fühlt sich dementsprechend aus der Zeit gefallen an, zugleich aber so dringlich und aufregend wie kaum ein anderes in diesen Tagen. Bisweilen lässt Annahstasia Enuke an die ekstatische Insichgekehrtheit von B. Glenn-Copelands frühesten Alben denken, in ihren dramatischsten Momenten aber klingt sie wie eine Anohni, die den Backkatalog von Norah Jones inhaliert hat. Und der letzte Song käme wohl dabei heraus, wenn Bryan Adams Farewell Transmission neu einspielen würde. Doch ist das alles – mit Ausnahme eines labbrigen Spoken-Word-Stücks zwischendurch – komplett makellos, zeitgemäß und innovativ. Auch das Obongjayar-Feature, das erste wirklich sinnige der Musikgeschichte.
Kristoffer Cornils
Es ist die tollste, die schönste, die wirklich großartigste Platte, die man hören kann, an einem frühen Morgen, spät am Abend, von mir aus auch dazwischen. Sie kommt von Barker, da muss man immer Berghain dazuschreiben, aber eigentlich könnte man auch Leisure System sagen, ein wahnsinniges Label. Aber das klickt dann nicht so gut. Was ja thematisch reinpasst. Stochastic Drift ist keine schreiende Klick-mich-Platte. Sie ist das Herrengedeck für die Zigarrenstunde. Oder auch was ganz anderes. Jedenfalls, so, so gut!
Christoph Benkeser
Golliwog ist das musikalische Pendant des Films Reflecting Skin: Ein obskures, unter dem Radar laufendes Meisterwerk, das einen fix und fertig macht. Billy Woods klingt da »betäubt und wirkt betäubend, erscheint ebenso emotionslos wie wutgeladen, wirft dich nach vorn und doch auf den Boden«, erklärt Kollege Brauwers in seinem Porträt des New Yorker Rappers. Eine treffende Beschreibung, die unterstreicht, wie sehr einem die durchweg alptraumhafte Stimmung der LP in Mark und Bein fährt. Für die Sorgen neben Woods´ eindringlicher Delivery auch ein All-Star-Producer-Roster, dem Underground-Ikonen wie El-P, The Alchemist oder Ant angehören. Stark!
Christian Neubert
Dev Hynes arbeitet auf Essex Honey, seinem sechsten Album als Blood Orange, seine Kindheit als Außenseiter in der englischen Einöde auf, gießt Traumata in schillernde Pop-Momente. In alter Mixtape-Manier früherer Werke passiert auf Essex Honey sehr viel nebeneinander und gleichzeitig: Cello-Motive zu Breakbeats, Prince-Einlagen nach Piano-Balladen, eine kunterbunte Gästeliste und oft beinahe zu viele Ideen pro Song.
Martin Silbermann
Es läuft immer gleich ab. Man spielt jemand Brittany Davis' Black Thunder vor, dieser Jemand schweigt, hört zu, hört langer zu, redet gar nicht mehr und ist dann so: Das ist…oh…das ist…GUT…das ist..was ist das? Und dann die große Verwunderung, den Namen der Interpretin noch nie gehört zu haben, obwohl diese Stimme und der Duktus dieser Musik etwas so Großes, etwas Vollendetes hat. Black Thunder ist in zwei Tagen entstanden, komplett improvisiert – und klingt wie eine minimalistische Nina Simone.
Pippo Kuhzart
Kleine Übersetzungsübung: Rhythm Immortal bedeutet »unsterblicher Rhythmus«. Und so oft Carrier, der früher als Shifted versatilen Techno produzierte, seine gespenstischen Bass-Music- und Drum’n’Bass-Tracks auch an den Rande des Kollaps führt, sie überleben doch jedes Mal – auch wenn sie sich in steriler, kantiger Umgebung wund scheuern, ihr metallen pochendes Herz unter ihrem spröden Gerippe preisgeben. Dieses Album setzt einen bitter nötigen Kontrapunkt zum noch immer anhaltenden Spaßdiktat in der elektronischen Musik.
Maximilian Fritz
Marjaa: The Battle of the Hotels (Versions) ist eine atmosphärische Neuinterpretation von Mayssa Jallads Konzeptalbum aus dem Jahr 2023, das sich mit der »Schlacht der Hotels« im libanesischen Bürgerkrieg (1975/76) auseinandersetzt. Der schwedische Produzent Civilistjävel! überführt das Original behutsam in eine kontemplative Klangwelt – geprägt von Dub- und Ambient-Elementen. Im Gegensatz zur erzählerischen Tiefe und der akustischen Vielfalt des Originals legt Versions den Fokus auf einen Atmosphäre und Hypnose. Im Zentrum steht Jallads außergewöhnliche Stimme: Die arabischen Lyrics werden eindringlich auf verschleierte, fragile Weise in gespenstisch wirkende Echos transformiert. Ein stilles Meisterwerk.
Celeste Dittberner
Rap als Evolutionstheorie: Pusha T und Malice liefern mit Let God Sort ‘Em Out ein stilbewusstes, zeitgemäßes und spätwerkgerechtes Comeback-Album, das das darwinistische Prinzip Survival of the Fittest um eine Rap-Version erweitert. Alte Neptunes-Beats wurden in nackter Präzision aktualisiert, der halbe HipHop-Hochadel lowkey aufs Korn genommen, und das Kunsthandwerk der mehrdeutigen Punchline perfektioniert – und das alles mit Ü-50. Eine Lehrstunde der Lässigkeit.
Fionn Birr Zur Review
Die Fußspuren, Traces, denen die schwedische Supergroup Cosmic Ear folgt, sind die von Don Cherry. Der Bassklarinettist Christer Bothén hat selbst mit Cherry gespielt, brachte dessen Musik das donso n’goni nahe – eine mit Ziegenfell bespannte, vier- bis sechssaitige Harfenlaute, die in Westafrika traditionell den Jägern vorbehalten ist – und war eine wichtige Bezugsperson während Cherrys Residenz in Schweden. Dessen Spiritual free jazz meets world music-Ansatz wird hier vom 83-Jährigen und seinen Mitstreitern Mats Gustafsson, Goran Kajfeš, Kansan Zetterberg und Juan Romero – allesamt bekannt vom freifließenden Fire! Orchestra – ins 21. Jahrhundert übertragen. Keine nostalgische Note. Schlicht zeitlos.
Sebastian Hinz
Wo das selbstbetitelte Erstwerk der Cuneiform Tabs noch im besten Sinne mühe- weil sorglos war, hat sich das Duo der Herausforderung, eben das nicht mehr zu 100 Prozent zu sein, für ihr zweites Album gestellt und sich… einfach mehr angestrengt! Auf Age sind die Ideen ausformuliert, die Sequenzen durchdacht, Kohärenz wurde gefunden. So kommen Pop-Momente in die Post-Punk-Atmosphäre. Plötzlich ist hier Simon & Garfunkel drin. Here’s to you!
Pippo Kuhzart Zur Review
Irgendwo zwischen dem Art Ensemble, Alchemist und…Gil-Scott-Heron muss man Damon Locks' List Of Demands einordnen, wenn man eine Ahnung vermitteln will, was hier abgeht. Geloopte Soul-Samples, Black-Power-Audio-Schnipsel, Saxofon, spirituell-politische Predigen, und nebenher laufen in der Glotze gleichzeitig Cartoons und die Nachrichten. Unrast-Musik, durch und durch.
Pippo Kuhzart Zur Review
Demdike Stare befinden sich weiter in ihrer Kollabo-Era. Nach den spröden, naturalistischen Zusammenarbeiten mit Jon Collins, ist To Cut And Shoot ambitionierter, artifizieller. Kristen Pilons Vocal-Beiträge sind zentral und doch auf gute Art zweitrangig – der Subbass macht die Ansagen. Wenn das hier ein Mood Piece sein soll, dann ist die Mood Asbest.
Florian Aigner
Was würdest du heute tun, wenn du wüsstest, dass es kein Morgen gibt? Mit genau dieser Frage beschäftigt sich das Album Yarın Yoksa – und macht sie zum Ausgangspunkt in einer Zeit, die von Unsicherheit und Weltschmerz geprägt ist. Gleichzeitig klingt das Album eineswegs melancholisch oder verzweifelt, sondern warm und hoffnungsvoll. Als würde uns die Musik mitteilen wollen: Gerade weil morgen ungewiss ist, zählt jeder Moment umso mehr. Yarın Yoksa spannt dabei einen musikalischen Bogen zwischen anatolischer Tradition in Form drei traditioneller Volkslieder und eigenen Kompositionen, die deutlich von 70er-Jahre-Psychedelic und modernem Funk geprägt sind.
Celeste Dittberner
Dijon, schon sein Name ist nicht kompatibel mit Suchmaschinen. Der Proberaum-Soul des Sängers und Songwriters aus Baltimore, Maryland knarzt, fuzzt und rauscht dazu auch in einer digitalen Musikwelt, die Quantisierung und Autotune zum Industriestandard erklärt hat. Das macht Baby! zum Antikörper im Algorithmus. Ein Meilenstein für Saturation statt Sterilität (und mit der Arbeit für Justin Bieber die ganz eventuelle Vermutung, dass diese R&B-Generation gerade einen neuen Prince gefunden hat, aber das bleibt unter uns, okay?)
Fionn Birr
Wieso hat Beside Myself eigentlich nicht mehr Aufmerksamkeit erhalten? DJ Haram fängt hier die Gegenwart ein wie kaum jemand sonst in diesem Jahr. Ihr Debütalbum handelt von Angst, Wut, Trauma, Entfremdung, Überleben. Ja, Überleben – für die meisten ein wichtiges Thema. Instrumente des Nahen Ostens (Darbuka, Tamburin, Violine) treffen auf Club-Beats, Rap, Noise, Punk-Attitüde. Kollaborationen mit Moor Mother, Armand Hammer, Bbymutha und Aquiles Navarro weiten das Klangfeld. Ein kollektiver Raum, der verbindet, ohne zu versöhnen.

Auf Under Tangled Silence bilden Streicher, Piano, Cello und Flöte das emotionale Zentrum, während kompromisslose Percussion und tiefe Drones Kontraste setzen. Doch Djrum lässt auch Raum für Stille, für feingliedrige Arrangements und für melancholische Piano-Reflexionen, die mit Ambienthandschuhen trösten. Seine musikalische Sprache ist offener denn je, dabei präzise und dramatisch aufgeladen.
Moritz Weber Zur Review
Im vorliegenden Fall sieht die richtige Vorbereitung auf den Sturm so aus: Hütte verlassen, mit dem Shirt die Angst abstreifen, den Blick nach vorne richten, nur ein Ziel kennen: das Auge des Dinges, das da am Horizont aufzieht. Lange braucht es auch nicht, dann ist er da. Auf Children Of Darkness der Taipeh-Band Dope Purple wahren E-und Bass-Gitarre lange die Ordnung und halten damit gleichzeitig die Spannung hoch: ihr mantra-artiges Spiel sorgt dafür, dass man das Chaos immer noch antizipiert, obwohl das Saxofon längst quietscht und der Alarm der Synths klingt als verkündete er ein zweites Leck im Reaktor. Und dann geht das weiter. Weiter und weiter und tiefer rein. Der Psych-Rock von Dope Purple zeigt keinerlei Interesse, das Licht am Ende des Tunnels zu finden. Ergeben statt Erheben ist name of the game.
Pippo Kuhzart
Seit nunmehr 15 Jahren gehört Earl Sweatshirt zu den interessantesten Figuren der US-amerikanischen Hip-Hop-Landschaft. Seine nuschelige, vor allem originelle Vortragsweise wirkt auf dem neuen Album Live Laugh Love zugänglicher als je zuvor; er lässt diesmal Raum für Entspannung und Optimismus, während frühere Platten eher von runterziehender Abstraktheit geprägt waren. Es ist eines dieser Alben, auf denen Chaos und Unverständlichkeit plötzlich zum gemütlichen Segen werden. Earl Sweatshirt bleibt der König des Abtstract-Rap – und Live Laugh Love stellt einen künstlerischen Höhepunkt dar.
Lennart Brauwers Zur Review
Das beste R&B-Album des Jahres kommt aus Dänemark. Erika De Casier gelingt auf Lifetime, was einem nur mit einem gewachsenen Selbstbewusstsein gelingen kann: Madly erotic Liebes-Vibes verbreiten und dabei ganz unaufgeregt, ja cool! bleiben. Und vielleicht spinne ich, aber: Ist das auf »Delusional« nicht auch eine bewusste Hey-Ma-Referenz? Die Zeit dafür wäre jedenfalls mehr als reif.
Pippo Kuhzart Zur Review
Große Müdigkeit, verwaschene Streicher, schleppende Drums, Brit-Spoken-Word. »You always waiting for something to happen – and I ask you: for nothing to happen«. Irgendjemand musste den Job übernehmen, dass diese spezielle, ureigene urbane Melancholie auch 2025 gut abgebildet ist, die flüchtige Liebe und die mit dem Sonnenaufgang verpuffende Euphorie. Und niemand hat das so schön, so greifbar im vergangenen Jahr hingekriegt wie Felicity J Lord.
Pippo Kuhzart
Die größte Qualität von gutem Ambient ist Zeitlosigkeit. Weshalb sich ishomes Album Carpet Watcher auf Galaxiid, dem Sublabel von Nina Kraviz’ Trip, ruhig anhören darf wie die bestmögliche Synthese aus Boards of Canada und Biosphere. Über eine Stunde hinweg zelebriert die LP ihre Lebendigkeit und fordert volle Aufmerksamkeit, ob mit spitzen, haptisch perlenden Synths, die durch den Hangar einer verlassenen Raumstation mäandern, oder Songs, die sich von abseitigen, kühlen Spoken-Word-Landschaften zu vollwertigem, mehrstimmigem Pop aufschwingen, der durchs Orbit zuckelt.
Maximilian Fritz
James K liefert mit Friend eine dieser Platten, die 2025 wie ein leises Warnsignal wirken. Sie ist verletzlich, sirrend und störrisch schön. Zwischen Noise-Flimmern und behutsamen Flüstereien, die unter die Haut gehen, baut sie intime Räume, die zugleich brüchig und futuristisch klingen. Friend gehört in die Jahresliste, weil kaum jemand die Gegenwart so hellhörig zerlegt und dabei trotzdem Nähe wagt.
Wencke Riede
Wenn man stotterst, ist eines der Worte, die man am häufigsten stottert: der eigene Name. JJJJJerome Ellis griff, um eine andere Ausdrucksmöglichkeit als Sprache zu finden, irgendwann zum Saxophon. Er fand heraus: Er stotterte immer noch – aber anders. Versper Sparrow strahlt die Tiefe, die nur von Künstler:innen ausgehen, die die eigenen Limitierungen genau kennen und daraus ureigene Tugenden entwickelt haben. Klanglich ist das der inoffizielle Nachfolger zu Laurel Halos Atlas – und das ist ganz sicher eines der besten Alben der 2020er bisher.
Pippo Kuhzart
Sich morgens schon besoffen fühlen, ohne nur einen Tropfen angerührt zu haben. Geht mit Joss Turnbull, wenn dieser in scheinbar völlig zufälliger Reihenfolge seine Percussion schlägt, reibt, kitzelt, zwickt, streichelt, antippt und die überraschten Reaktionen der Instrumente durch Effektgeräte schickt. Dazu stöhnt, ruft, murmelt er auf Turmoil und lässt alles in einem chaotischen Derwischtanz kollidieren. Da schwirrt der Kopf, drehen sich Augen, aber die Hüfte… die Hüfte ahnt einen betörenden Groove.
Jens Pacholsky
Little Simz hat einen neuen Produzenten. Auch wenn der Grund eher traurig ist (ihr früherer Weggefährte Inflo schuldet Little Simz £ 1,7 Mio.), tut es der Rapperin richtig gut. Ihre Lyrics sind bissig und voll pointierter, abgeklärter Wut, ihre Delivery traut sich über mehrere Tellerränder, wenn sie Inflo zerpflückt. Und die Musik ist roh und lebendig. Produzent Miles Clinton James hatte zwar schon früher Writing und einzelne Instrumente beigesteuert. Auf Lotus (AWAL) gibt er Little Simz nun den Energieraum zurück, den Inflos mittlerweile redundanter, weichgespülter Konservensoul in der Vergangenheit ziemlich eingepfercht hatte.
Jens Pacholsky Zur Review
Kräfte von den Meridian Brothers, Frente Cumbiero und Romperayo machen gemeinsame Sache. Los Pirañas ist eine Bogotá-Supergroup, sozusagen. Eblis Alvarez, Mario Galeano und Pedro Ojeda haben Una Oportunidad Mas De Triunfar En La Vida im Studio live aus Improvisationen entwickelt. Cumbia ist die Basis, andere lateinamerikanische Spielweisen sowie deren afrikanische Wurzeln sind das Material, das hier mit Punk-Geist verarbeitet wird. Vordergründig gut gelaunt, aber immer bereit für ein stilistisches Abenteuer.
Andreas Schnell Zur Review
Er hat sich ein bisschen Zeit gelassen für sein Solodebüt. Marshall Allen, Leiter des Sun Ra Arkestra, zählt mittlerweile 101 Jahre. Sein New Dawn ist kein atonaler Wahnsinn und keine Weltraum-Esoterik, Allen kratzt an der Tür zum Free Jazz, geht aber nicht hindurch. Spuren von Calypso, Big Band und Spiritual Jazz, Funkyness und Streichern ziehen sich durch die Tracks, und kosmische Effekte gibt es dann, wenn er sein Altsaxofon gegen das Electronic Wind Instrument tauscht. Das wirkt so frisch und lebendig, als wäre der Jazz gerade erst erfunden worden.
Albert Koch Zur Review
Wenn Maurice Louca Musik macht, öffnet er die Büxe nicht ein Stück weit, er lässt immer gleich den ganzen Schwarm raus. Seine Kompositionen sind wie eigene Organismen, wachsende Körper, die einen umwirbeln, einen mitreißen in den Strudel, der eine Stadt wie Cairo ja überlieferterweise wohl ist. So pointiert komponiert wie auf Bariiy (Fera) hat der ägyptische Musiker wahrscheinlich noch nie: Die Stücke haben trotz ihrer charakteristisch wimmelnden Art einen starken inneren Zusammenhalt und eingängigen Groove. Fera ist der Puls, den man haben will – alles andere wäre nur halb lebendig.
Pippo Kuhzart
Flackernd wie ein schlechter Tagtraum, leuchtend wie ein gutes Omen: Jay Mary, Comfort Me von Mess Esque ist kein Album, sondern ein Zustand. Gitarrennebel, Hallräume, Stimmen, die durch den Raum treiben wie Erinnerungsfetzen – irgendwo zwischen Ambient, Slowcore und Wachschlaf. Willkommen im schönsten Fiebertraum des Halbjahres! Wer wissen will, wie sich zwischen Wachen und Wegdriften Musik anfühlt, sollte hier kurz verschwinden. Empfehlung für alle, die ihre Realität gerne in Zwischentönen hören.
Ania Gleich Zur Review
Mohammad Mostafa Heydarian spielt eines der ältesten Instrumente überhaupt, die Langhalslaute Tanbur, aber der kurdische Virtuose interessiert sich kaum für die bloße Traditionsverwaltung. Mit Noor-e-Vojood macht der 23-Jährige aus Kermānshāh stattdessen dort weiter, wo er 2021 zusammen mit dem Dāf-Spieler Behzād Varāshte auf seinem Debüt Songs Of Horaman aufgehört hatte. Größtenteils im Alleingang tätig – bei den beiden längsten Stücken ist Mortezā Rezāei an der Percussion zu hören –, differenziert Heydarian seinen zwischen introspektiver Ruhe und rasender Energie oszillierenden Kompositionsstil weiter aus. Herausgekommen ist das wildeste Akustik- Release diesseits der neuen Senayawa-Platte, durch und durch innovativ.
Kristoffer Cornils
Der Titel Demilitarize klingt wie ein Statement gegen die seit Jahresbeginn allerorten aufflammende Kriegsrhetorik. Doch im Gegensatz zu seinem 2020er Debüt Guerilla ist Nazars zweites Album keine Auseinandersetzung mit Krieg, sondern mit sich selbst, mit Krankheit, nachdem er nach einer COVID-Erkrankung lange mit wiederaufgeflammter Tuberkulose kämpfte, mit Verletzlichkeit und innerer Unruhe. Songs wie »War Game« nutzen Kriegsmetaphern (»10 pills for 6 months as artillery«), um das abzubilden, was im eigenen Körper passiert, und ziehen Vergleiche zur Kriegserfahrung seiner angolanischen Familie. Seine von ihm selbst mal als »rough kuduro« bezeichnete Musik wird dabei intimer. Verzeihender, möchte man fast sagen, denn gegen sich selbst geht man ja nicht so hart zu Gericht.
Sebastian Hinz Zur Review
Die Vorab-Single von OHYUNGs Drittwerk You Are Always on My Mind war eine Überraschung: no good hatte herzlich wenig mit den sanften Ambient-Klängen des Vorgängers imagine naked! zu tun und aber alles mit dem Pop-on-a-Beat-Stil, den Mica Levi und Tirzah vordefiniert hatten. OHYUNG geht indes andere Wege, zollt sowohl dem Hip- als auch dem Trip-Hop, schräger elektronischer Musik und gelegentlich dem Dancefloor Tribut, alles abgerundet durch großzügig und doch effiziente eingesetzte Streicher-Samples. Laut Künstler:in hören wir »mein Trans-Ich und mein früheres Ich im Gespräch, aus beiden Perspektiven« und also ein Album voller musikalischer und emotionaler Kontraste, hier noch mit Gude-Laune-Garantie und dort schon absolut niederschmetternd.
Kristoffer Cornils
Das New Yorker Trio Purelink schuf mit seinem Debüt Signs vor zwei Jahren eines der besten Alben der Dekade bisher. Einigermaßen hohe Latte für ihre zweite Platte, Faith. Von den feinen Geflechten aus Knistern, Ambient und Dub entwickeln sie sich diesmal hin zu klareren Klangstrukturen. Sogar Gäste wie Loraine James schauen gelegentlich vorbei und tragen zu veritablen Minimalsongs bei. Insgesamt ist die Sache etwas erdiger, ihrem Ideal des maximal reduzierten Groove bleiben die Drei aber weiter treu.
Tim Caspar Boehme Zur Review
Viel mag viel helfen, aber … irgendwas mit Köchen und Brei, ihr wisst schon. Der libanesische Allrounder Raed Yassin hingegen hat mit Phantom Orchestra als Sternekoch reüssiert. Das Mitglied des »A«-Trios und von Praed hat separat aufgenommene Improvisationen von 42 (!) Berliner Musiker:innen zu einer konsistenten, kohärenten siebenteiligen Suite zusammencollagiert; ein nachdrücklicher Reminder daran, dass selbst die gigantösesten Monumente auch dann die Summe ihrer Einzelteile sind, wenn sie mehr darstellen. Und ein Album, gegen das selbst die größten genreflexibelsten Bands unserer Zeit – egal, ob euch das nun an Sleep Token, Godspeed You! Black Emperor oder Neptunian Maximalism denken lässt – wie stümperhafte Rülpspunks aussehen.
Kristoffer Cornils
Leicht vom Schuss aufgeführter Bedroom-Pop, der catchy sein darf, auch wenn er sich konsequent für die Umwege entscheidet. Was Raisa K, deren Freundschaft zu Mica Levi unüberhörbar ist, serviert, ist ein bisschen leiernd, ein wenig verhangen und sehr, sehr großartig. Manchmal spielt nur ein Bass mit, aber was sie aus diesen kleinen Song-Experimenten herausholt und dabei so intim klingt, dass es sich fast falsch anfühlt, sie laut zu hören, sollte nicht ignoriert werden. Diese Form von windschiefem Art-Pop erlebt zum Glück gerade eine Hochphase, klingt aber selten so faszinierend wie hier.
Christopher Hunold
Auch 2025 ist die Kombo aus Stimme und Gitarre zu Großem fähig. Kaum ein Track auf Dancin' In The Streets, dem neuen Album von Tom Boogizm alias Rat Heart, hat mehr als drei Zutaten. Alle arbeiten gegen die Harmonie, und trotzdem entsteht im Nebel Spektakuläres. Boogizm verdichtet hier eine Form von abseitiger Songwriter-Musik, bei der er die mit spärlichen Mitteln gebauten Tracks durch Öllachen und Staub zerrt und zur Sicherheit noch einmal mit Schleifpapier drübergeht. Verzerrte Powerballaden und spooky Unterwelt-Folk klangen dieses Jahr nicht einnehmender.
Christopher Hunold Zur Review
Über einen Zeitraum von zehn Jahren soll Sabbatical, das vierte Album der Berliner Künstlerin Rosa Anschütz, entstanden sein. Kein Sabbatjahr, ein Sabbatjahrzehnt also, das mit einer durchaus größeren musikalischen Bandbreite als seine Vorgänger daherkommt und gerade deshalb im Ohr bleibt. Sabbatical, erschienen auf Heartworm Press, ist ruhig - melancholisch und düster, ehrlich und überlegt. Schon mit dem Vorgänger Interior löste sich Rosa Anschütz aus der stilistischen Einbahnstraße, in die sie durch den pumpenden Kobosil-Remix geschoben wurde. Sabbatical knüpft daran perfekt an.
Nikta Vahid-Moghtada
Dass Lux mit seinem epochalen Avantgardismus, seiner hochkreativen Orchestrierung sicherlich beeindruckt, vermutlich aber unspaßig oder gar anstrengend sein könnte, dachte ich vor meinem ersten Hördurchgang. Wie ich im Unrecht war: Das neue Album von Rosalía ist eine ultraemotionale Gänsehaut-Maschine, ein genialer Songzyklus voller Ambition und Talent. Meisterwerk! Die spanische Flamenco-Sängerin ist endgültig zur Art-Pop-Göttin geworden; wer auf der Suche nach einer aktuellen Björk ist, muss nur in ihre Richtung schauen.
Lennart Brauwers
Dieser Banger kommt aus dem Libanon. SANAM machen mittelöstlichen Prog, golden im staubigen Sonnenlicht glänzenden Kraut, irgendwie auch eine andersstoffliche Version von Dream-Pop. Sametou Sawtan steckt so voller Wehmut und Ausbruchsgeist zugleich, dass es einen als Hörer aus allen Richtungen am Herzlein zieht. Die Musik schöpft aus dem Vollen, klanglich wie spirituell, und ist so SO gut produziert und gemastert: satt, sinnlich, einprägsam.
Pippo Kuhzart
Von Kraftwerk über D.A.F. bis hin zur Salon-des-Amateurs-Clique ist das musikalische Erbe Düsseldorfs über die Jahrzehnte gigatonnenschwer geworden, doch Sequence Of Events schultern diese Last mit Leichtigkeit. Joshua Gottmanns und Deniz Ahmet Saridas, selbst Alumni des Salons, präsentieren sich auf ihrem Debüt The Art of Memory als ausgefuchste Adepten des von Kreidler und Co. vorgeprägten Post-Industrial-Sounds mit Dub im Unterboden und ziemlich scharfen Kanten, geben den bewährten Formeln aber einen neuen Spin. Auf elf Tracks vereinen die beiden anarchischen Autodidakten pluckernde Grooves mit Punk-Attitüde und hin und wieder unvermittelt ins Getriebe triefende Sentimentalität.
Kristoffer Cornils
Simon Grab aus Zürich ist ein Meister des »No-input-mixings«, bei dem der Output des Mixers wieder in seinen eigenen Input zurückgeführt wird, bis elektrische Schleifen zu Material werden: aufbäumendes Feedback, subtiles Brummen, droniges Schaben. Kurz: Der Mixer ist Grabs Instrument. Eine Art vulkanischer Druckkessel, in dem Klang entsteht, weil nichts hineingeschickt wird – außer Energie. Für Porœs holt er sich den Schlagzeuger David Meier, Schweizer wie er selbst, hinzu. Die sieben Stücke wirken wie petrologische Untersuchungen: hohe Dichte, geringe Hohlräume, dunkel, widerständig.
Sebastian Hinz Zur Review
Slikback hat sich innerhalb von nur fünf Jahren zur Skrillex-Kollaboration hochgearbeitet und legt es dennoch nicht auf Mainstream-Anerkennung an. Nach einer überwältigenden Anzahl selbst veröffentlichter EPs und Compilations greift sein Debütalbum von Dubstep über dekonstruierte Clubmusik bis hin zu hämmerndem Industrial Techno verschiedene Genres auf und mischt sie auf nonchalante Weise, um damit eine sehr eigene Nische weit ab vom Schuss zu eröffnen. Atrition bietet die Art von futuristischer Musik, von der es in den vergangenen Jahren im Club zu wenig zu hören gab.
Kristoffer Cornils Zur Review
Gingen sie heute noch zur Schule, gehörten Henriette Motzfeldt und Catharina Stoltenberg sowohl zu den Cool Kids als auch Weirdos. »I heard that they broke up, hahaha«, singt die eine mit einer Gleichgültigkeit, wie sie nur chronische Zyniker mit Herzschmerz beherrschen. Mal flirty, mal melancholisch werden so die (Un-)Erträglichkeiten der Großstadt vorgetragen. Mit schwermütigen Beats und pointierten Ein-Finger-Klavierriffs ist Big City Life von Smerz eigentlich reines Understatement, aber mit Ansage.
Laura Kunkel
Wenn sich Sound Art, Post Hardcore und Art Rock barrierefrei im Klangraum begegnen, dann klingt das genauso, wie Stephen Vitiello, Brendan Canty und Hahn Rowe auf ihrem zweiten gemeinsamen Album Second. Durch ihre Tracks geistern Ahnungen von freier Improvisation, Electro Funk, Ambient, der Ethno-Seite des Krautrock, No Wave, Dub und Illbient. Im Zusammenspiel verschmelzen diese oft nur fragmentarisch gesetzten Einflüsse zu etwas, das viel größer ist als exzessives Genre-Dropping vermuten lässt.
Albert Koch Zur Review
Was geht hier eigentlich ab? Die keltische Kappelle Trá Pháidín (9 Musizierende!) hat mit AN 424 ein Album veröffentlicht, das wirklich ein ganz anderer Trip ist. Bikini-Bottom-Post-Rock? Pub-Folklore? Klar ist: Die Steilküste ist beständig nahe with this one. Das Konzept macht hier tatsächlich Musik. Laut einer Karten-App bringt einen die Buslinie 424 von Gallway nach Leitir Meallaín, in 1:42h. Es geht am Meer entlang in die Abgeschiedenheit. Und dieser schunkelnd getriebene Fideljazz klingt einfach ganz genauso windig und steinig und grün, wie man sich die Landschaft stereotyperweise vorstellen würde.
Pippo Kuhzart
Footwork ist eines jener Genres, denen wahlweise das Aussterben oder Revivals angedichtet werden. Die Wahrheit aber ist: Footwork war nie weg und wird es auch nie sein, und Acts wie Traxman haben daran großen Anteil. 15-mal lässt der Chicagoer, sorry, Veteran, daran teilhaben, was in seinem Kopf vor sich geht: Ein irrwitzig inspiriertes Wirrwarr aus brachialen Basslines, humorigen Dancefloor-Kommandos und kreativem, dennoch präzisem Sampling, das besten Teklife-Zeiten in nichts nachsteht.
Maximilian Fritz Zur Review
Xexa sticht selbst im Roster von Príncipe hervor. Ihr Debüt Vibrações de Prata ging in den Dialog mit Ambient und Jazz, und obwohl »Kissom« mit mehr Beats arbeitet und unter anderem Kizomba-Rhythmen zitiert, scheint Xexa weiterhin kein Interesse daran zu haben, es ihren Labelkolleg:innen auf dem Dancefloor gleichzutun. Stattdessen arbeitet sie mehr mit der Stimme und schafft einen ebenso lo-fi wie low-key Ambient-R’n’B-Sound, der gleichermaßen eigenwillig wie einladend ist. In einer besseren Welt würden wir darüber statt über fka twigs und Rosalías peinliche Ausflüge in die Clubszene reden.
Kristoffer Cornils