Vinyl-Sprechstunde: Kanye West – ye

Text: Redaktion
27.06.2018
Slavery was a choice, Make America Great Again, man kennt die Storys. »ye« einfach nur als Tonträger zu besprechen, ist unmöglich. Drei Wochen nach Release versuchen wir, den ganzen Wahnsinn irgendwie einzuordnen.

Aigner: Kollege Kunze, erklär’ doch mal, warum du Kanye als Denker wertgeschätzt hast, Pre-»ye«.
Kunze: Für mich war Kanye West einer der letzten wirklich mündigen Megastars. Mit mündig meine ich hier ganz einfach, dass sich der sich meiner Ansicht nach noch tatsächlich getraut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat Kanye für mich immer interessant gemacht.
Aigner. Du warst ja auch länger bereit als die meisten, das noch nachzuvollziehen. Obwohl er sich vielleicht schon final verrannt hatte.
Cornils: Kannst du das exemplarisch erläutern? Wo hat sich Kant-ye (lol sorry) denn offenbart?

»Kanye ist eigentlich Altgrieche, ständig im Fluss und im Werden begriffen«

Kristoffer Cornils

Kunze: All die Interviews. Sei es bei Lowe oder jüngst im Gespräch mit Alex Vervoordt. Der Typ war immer irgendetwas auf der Schliche. Er ist für mich der einzige, der sich auf diesem Sichtbarkeitslevel getraut hat, auch Gedanken öffentlich zu äußern, die noch nicht ausgegoren waren. Man hat dem beim Prozess zuhören können. Das war immer wahnsinnig und widersprüchlich und mit Momenten von Brillanz.
Cornils: Ja, er hat den Twitter-Mindset schon zu Web 1.0-Zeiten gehabt. Aber ist das aus heutiger Sicht unbedingt bewunderswert?


Aigner: Eigentlich hätte man da MAGA und Slavery und das ganze Dilemma als worst case schon befürchten können.
Kunze: Wahrscheinlich! Aber nur wegen Kanye haben jetzt zum Beispiel Okayplayer geschrieben, Seht her, wir müssen unser Bild eines Celebrities überdenken – sie sind fehlbar! Ich mein: d’oh. Aber da das sehr Wenigen so endgültig klar war, finde ich das wenigstens ein fruchtbares Ergebnis aus dem Schlamassel.

Cornils: Interessant ist ja auch, dass sofort Verschwörungstheorie-Twitter darauf kam, West würde lediglich ein Performance-Art-Stück abziehen mit dieser Trump-Geschichte. Da wurde verzweifelt nach Strohhalmen gegriffen, nach Bedeutung gesucht, wo vielleicht keine war. Wenn du die Aufklärung mit einbringst: Kanye ist eigentlich Altgrieche, ständig im Fluss und im Werden begriffen. Das hat ihn schon immer spannend und v.a. auch unvorhersehbar gemacht. Natürlich ist das erstmal geil, weil es so anders ist in Hinsicht auf den aalglatten Neoliberalismus-Pop, den wir sonst serviert bekommen. Aber wie gesagt: Jetzt ist er wohl zu weit gegangen und alle kündigen ihm das Fan-Abo auf. Das wiederum behagt mir auch nicht recht. Denn: Was erwarten wir von Kanye West eigentlich, gerade wir Milchbrötchen aus Almanland?

Kunze: Zu allem: JA UND JA UND JA! Nur eine Frage dazu: was genau behagt dir nicht? Die Kündigung des Fan-Abos wegen vermeintlicher moralischer Überlegenheit?
Cornils: Weil ich das Gefühl habe, dass Kanye zwanghaft zu einem Proxy für den schwarzen Struggle gemacht wird, der er vielleicht nie war und eventuell auch nie sein wollte.
Kunze: Er hat live im TV gesagt: »George Bush doesn’t care about black people«

Cornils: Ja, und das war auch ein prägender Moment. Aber Bushs offensichtlichen Rassismus als solchen auszusprechen, wenn dir gerade jemand ein bisschen Sendezeit gibt – macht dich das automatisch zu einem Träger für den politischen Diskurs?
Kunze: In dieser Welt schon. Außerdem würde ich schon behaupten, dass Kanye auch selbst gerne so gesehen werden will. Er stellt sich auch in seinen Texten immer wieder in eine Reihe mit schwarzen Pionieren. Der will das schon auch selbst.

Cornils: In jeder Rezension, die ich zu »ye« gelesen habe, wird eine Enttäuschung vorgeschoben, die sich vor allem an politischen Inhalten entzündet.
Kunze: Dass er es nicht geschafft hat, den schwarzen Menschen zur Glorie zu geleiten? Bzw. ihn jetzt sogar verraten hat?

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Cornils: Ja, der Verrat wird da glaube ich stark gemacht. Bei Ta-Nehisi Coats unter anderem, interessanterweise aber auch bei den Kartoffelkriegern des deutschen Feuilletons. Ey, Leute, das ist nicht euer Kampf, da habt ihr erstmal gar nichts zu fordern.
Kunze:: Nein?
Cornils: Ich persönlich? Ich habe erstmal weder als Hörer noch als Journalist etwas von Kanye West etwas in politischer Hinsicht zu erwarten. Ich kann es analysieren, interpretieren und dann meine Schlüsse daraus ziehen und auch Kritik äußern – mir aber keine Enttäuschung leisten. Das finde ich vermessen.
Kunze: Die Enttäuschung ist halt in erster Linie Armutszeugnis fürs Publikum. Da steckt ja auch dieses wurmige Bedürfnis drin, angeführt werden zu wollen.

Aigner: Ich bin so müüüüüüüde, diesen Kanye-Diskurs zu führen. Ich dachte halt echt die 1,5 Jahre Kanye-Auszeit wären genug gewesen, aber dann stellste halt schon nach Tweet 4 und Skizze 1 fest: eeeeeeeingentlich brauche ich vier Jahre. Für mich ist am dramatischsten die Enttäuschung, dass er es nicht mehr schafft, stringent musikalische Visionen umzusetzen. Weil das in erster Linie seine größte Qualität war.
Cornils: Fair. Dann lasst uns doch vielleicht einfach mal kurz versuchen, uns diese Platte und die drei anderen am Rattenschwanz anzuhören? Ich finde »ye« eigentlich ganz gut so. Also: »ganz gut so«.

Aigner: »Ganz gut so« ist halt genau das Problem. Kanye war entweder grauenhaft oder brillant. Jetzt stehen diese ganzen megalomanischen Kanye-ismen aber in einem total unbemerkenswerten musikalischen Kontext, das macht mich müde. Kanye in ganz gut so gibt’s ja schon. Er heißt J. Cole und ist der Teufel

Cornils: Auf jeden Fall. Dieses Extrem in die ein oder andere Richtung lässt sich allerdings weder auf »ye« noch auf den Platten für Pusha T Nas oder mit Kid Cudi wirklich hören. Selbst »808s« und »Yeezus«, die ich beide nicht mochte, ließen sich jedenfalls schön hassen. Da gab es Reibungspunkte.

Kunze: Für mich klingt »ye« einfach wie »Pablo«-Outtakes.
Aigner: Jep.

Cornils: Und das ist vielleicht das Traurige an diesem ganzen Diskurs drumherum: Dass der eventuell doch spannender ist als das, worauf er sich bezieht. Wenn er sich überhaupt auf die Musik bezieht.
Kunze: Waren für euch auf allen vier Alben keine Aha-Momente dabei?

Cornils: Bei Pusha T gibt’s ein paar sehr schöne Momente, »Nasir« finde ich musikalisch dick aufgestrichen und dünn ausgekleidet. Es pendelt sich betulich im Mittelmaß ein.

»Hat sich nicht viel geändert, außer die Nähe zu Verschwörungstheorie-Fucknuts und da kann man halt einfach nicht mitgehen.«


Kunze: »Nasir« finde ich auch unfassbar aufgesetzt, ich nehme dem Album keinen Takt ab!
Aigner: Ja, Pusha ist so ziemlich das Optimum was man von der Konstellation kriegen konnte, Nas der Worst Case. Kanye checkt halt zum ersten Mal ever den musikalischen Zeitgeist nicht oder noch schlimmer: er kann ihn nicht mehr aktiv selbst gestalten.

Cornils: Genau das meine ich. Musikalisch gesehen ist da nichts, was mich sagen lässt: Okay, das ist neu, das wird den Maßstab setzen.
Kunze: Und wenn man diesen unmenschlichen Anspruch mal weglassen würde?
Also bisher haben wir das Album ja nur darüber bewertet, dass es nicht dermaßen Grenzen verschoben hat, wie fast alle seiner Vorgänger.

Cornils: Wenn wir das täten: Dann wäre »ye« ein ganz okayes Rap-Album mit zwei Hits, das mir etwas erzählen will und ich verstehe recht wenig, wo es eigentlich hingehen soll.
Aigner: Ja, wobei sein Genie ja auch immer darin lag, 50% Zeitgeist zu verwalten und auf dieser Überpopstarebene zu perfektionieren und 50% selber zu prägen. Siehe Keef, Desiigner undundund.
Kunze:: Absolut! Zu euch beiden! Es folgt eine etwas verschwurbelte These. Ich glaube, »ye« ist sogar noch schlechter, als wir es machen. Ich glaube die versessene Erwartung des Hörer, Kanye müsse immer etwas neues erfinden, macht das Album, besser als es ist. Weil man die Möglichkeit mitdenkt/fühlt. Weil sie im Raum steht.

Cornils: Vielleicht, vielleicht trägt eben auch der Rahmen dazu bei, es halt irgendwie doch… transgressiv zu finden? Das quote unquote enttäuscht ja auch viele Musikjournalisten: Dass da so wenig Stellung bezogen, Haltung gezeigt wird. Das Ungenügende an »ye« ist vielleicht der eigentliche Skandal, zumindest scheint es so aufgefasst zu werden.
Kunze: Vielleicht gibt es auch gar keinen Skandal da dran. Vielleicht ist es einfach nur ein unfassbar mediokres Album von einem Typen, der viel zu viel Gewicht bekommen hat, ’cause people.

Aigner: Puh, aaaaaalso: Kanye-ismen waren davor schon im Bestfall hilarious but not that deep oder noch häufiger hilarious but batshit crazy. Hat sich nicht viel geändert, außer die Nähe zu Verschwörungstheorie-Fucknuts und da kann man halt einfach nicht mitgehen.

Reviews zum Künstler

Aigner: Ich glaube Kanye als nie stoppende Work In Progress war halt geil, jetzt ist der Prozess aber rum und am Ende gab’s halt kein MBDTF sondern ein paar Skizzen für Soundcloud.
Kunze: Glaubste, der Prozess ist rum?
Aigner: Ja, das tut mir am meisten weh: ja. Dude is washed.
Kunze: Nicht auszuschließen, dass er sich in zwei Jahren ein U-Boot mietet und irgendwo in der See vor Russland zugedröhnt einen Klassiker produziert. Kim und Kinder wurden inzwischen inzwischen in so einem Hibernations-Eistank eingefroren.

Cornils: Ich glaube, das wird nie passieren. Denn was Kanye schon verstanden hat, auch wenn er jedes Album als sein und das beste überhaupt vorfeiert: Der glaubt nicht mehr an und denkt nicht mehr in Klassikern. Sondern nur noch in Streams, entweder von Musik oder Revenue.

Aigner: Die ganze Diskussion und wie wenig wir dabei über Musik reden, zeigt doch nur, dass wir über ein Album reden, das ich ohne Kontext, ohne Kanye, ohne alles niemals besprechen wollen würden, weil es fast nichts gibt, was bemerkenswert ist. Und das ist einfach absolut nicht Kanye.

Cornils: True.

Aigner: Mir kommt es so vor als müssten wir ein Little Brother Album besprechen. Haja, ganz ok aber läppsch musikalisch ganz nettes Sample 6.2/10 ok geil ich check mal nebenher meine YouTube-Abos. Das kann doch nicht sein. Ja, ich meine, es liegt doch so eine Schwere, selbst über der Vinyl-Sprechstunde. Und normalerweise hört man ein Kanye-Album und hat 600 Gedanken pro Track.

Cornils: Deswegen würde ich aus journalistischer Perspektive einen Schritt zurück auf Anfang gehen und fragen: Wie darüber reden? Mit welchem Vokabular, mit welchem Ansatz? Weil es so dermaßen verfahren ist, nur aber nicht auf die geile Art. Denn die Widersprüche, die Kanye groß gemacht haben, die sind mittlerweile zu aufgeblasen, um dahinter noch was erkennen zu können.
Aigner: Sollten wir Track 1 als Psychogramm mal eine echt Chance geben oder haben wir jetzt alles was Kanye tut eh schon abgehakt?
Kunze: Gerne Chancen geben!

Aigner: Du fandest »I Thought About Killing You« ja super, ich zumindest interessant. Danach kam außer »yikes« nicht mehr viel, aber da war zumindest am Anfang noch Hoffnung.


Cornils: »Interessant« ist das Stichwort. Auch hier wird mit Widersprüchen gearbeitet, der sehr StudiVZ-Gruppentitel-like Schriftzug auf dem Album noch etwas komplexer aufgedröselt. Es hat alles einen sehr unguten Beigeschmack von wird-man-noch-mal-sagen-dürfen, immerhin aber: Einfach mal eine Lanze für den Hass, das Negative brechen, finde ich rein an sich gar nicht so mies.

Aigner: »See, if I was tryin’ to relate it to more people / I’d probably say I’m struggling with loving myself / Because that seems like a common theme / But that’s not the case here / I love myself way more than I love you / And I think about killing myself / So, best believe, I thought about killing you today.« Das geht schon einen Schritt weiter als Studi-VZ, ne?

Cornils: Ja, auf jeden Fall! Das genau meine ich: Hier wird Platz geschaffen für Komplexität mit ihren Schattenseiten (oder was wir gemeinhin dafür halten). Ich denke das vor allem auch politisch, obwohl es hier persönlich gemeint ist: Es gibt auch in der liberalen – links will ich das nicht unbedingt nennen – Bewegung einen Imperativ, der sagt: Seid positiv, optimistisch, empört euch, aber zeigt Liebe, yadda yadda. Dagegen einfach mal gegen die allgemeine Nettigkeitsdogmen sagen: Ich will dich töten, auslöschen etc. Das ist für mich produktiver als Nazis für den deutschlandweiten Schmunzelkick die Badehose zu klauen.

Aigner: Und die letzten Kanye-Worte auf der Platte sind: »Next, she’ll be off to college and then at the altar / ‘Cause she know that niggas is savage, niggas is monsters / Niggas is pimps, niggas is players, ’til niggas have daughters / Niggas is pimps, niggas is players, ’til niggas have daughters.« Unterkomplexer gehts dann halt auch nicht. Und ich war selbst bei »Yikes« noch hoffnungsvoll, dass da noch übel der Next-Level-Shit passieren könnte. »Shit could get menacing…«
Cornils: Aber auch da: »I don’t take advice from people less successful than me« , puh, auf welcher Ebene holt das noch irgendwen ab?
Aigner: Wäre ohne Trump-Scheiße am Schuh ein ganz normaler Kanyeismus.

Aigner: Ganz kurz noch: »I’ll beat his ass, pray I beat the charges / No, Daddy don’t play, not when it come to they daughters / Don’t do no yoga, don’t do pilates / Just play piano and stick to karate…« – Gauland.

Kunze: Wenn wir nochmal die Klammer um diese vier Kanye-Alben machen: Wie geht ihr da jetzt raus?

Cornils: Ich gehe da relativ unberührt raus. Ich brauche sie alle nicht. Und ja, vielleicht denke ich wirklich, dass wir Kanye – und sei’s nur für eine Weile – nicht mehr zuhören sollten. Denn vielleicht ist er wirklich dann am besten, wenn er sich die Aufmerksamkeit über Musik und nicht durch Tweetketten erarbeiten muss.

Aigner: Also das Gute ist: unberührt und Kanye geht für mich wenigstens immer noch nicht zusammen. Mich belastet die Mediokrität hier zumindest noch. Sie macht mich müde, aber ich nehme es immer noch persönlich.

Cornils:: Das heißt, du bist Fan geblieben? Irgendwer memte ja gleich nach Release: I hate being a Kanye fan, it’s awesome.
Aigner: Ich bin dann wieder Fan vom U-Boot Album 2022.
Kunze: Ich glaube, dass alles, was da jetzt auf und um das Album herum passiert ist, ein so schmerzhafter wie notwendiger Zwischenschritt war. Nicht nur für Kanye.