Records Revisited: Ol Dirty Bastard – Return To The 36 Chambers (1995)

28.03.2020
1993 begann eine Erfolgsgeschichte. Mit »Enter The Wu-Tang (36 Chambers)« produzierte der Wu-Tang Clan einen Meilenstein und nachfolgend zahlreiche Klassiker des Genres. Darunter: »Return To The 36 Chambers« von Ol‘ Dirty Bastard.

Die Legende zu Ol‘ Dirty Bastard geht so: »In jedem KungFu-Film gibt es immer einen dreckigen Bastard, eine dreckige Ratte; egal, was er tut, er tut das Falsche. Selbst wenn ihm etwas gelingt, war seine Absicht, das Falsche zu tun. Nun, das ist Dirty im echten Leben.« So schrieb es Wu-Tang-Mastermind RZA vor einigen Jahren im »Wu-Tang Manual« und schob hinterher: »Es gibt nur einen Dirty. Der Planet könnte nicht mit noch einem klarkommen.«

Als Gründungsmitglied des Wu-Tang Clan hätte Russell Tyrone Jones seinen Platz in der Musikgeschichte so oder so innegehabt. Doch selbst in diesem Kollektiv stach er als Ol‘ Dirty Bastard noch heraus – durch seinen schnodderigen Flow, durch seinen Charakter, seine Präsenz, seine Lyrics. Mit »Return To The 36 Chambers« folgte 1995 die obligatorische Solo-Platte von Ol’ Dirty Bastard mit freundlicher Unterstützung von RZA der die Produktion übernahm.

»Als ich mein erstes Haus in Cleveland, Ohio, kaufte, schickte ich meine Familie dorthin, aber ich bleib zum Arbeiten und Leben in New York«, schreibt RZA in »The Tao Of Wu«. Er kam für Jahre nicht aus dem Keller, in dem sich das Studio befand. Wortwörtlich. Man sagt, es braucht zehntausend Stunden an Übung, um ein Meister seines Fachs zu werden. »Seit ich 13 Jahre alt war, habe ich Hip-Hop gemacht. Aber dort unten in diesem Labor habe ich wahrscheinlich die letzten dieser zehntausend Stunden absolviert. Mit Aufnehmen, Mixen, Studieren, Erschaffen und Lernen.« In diesem Keller entstand dann neben Raekwons »Only Built 4 Cuban Linx« und GZAs »Liquid Swords« eben auch »Return To The 36 Chambers«, eine Ausgeburt des Wahnsinns.

Die typischen Loops und Samples von RZA finden sich, doch das Album trägt seinen transzendentalen Überbau mitnichten so offensichtlich vor sich her wie andere Platten dieser Zeit des Clans. Vielmehr regiert das Chaos. »Goin‘ Down« rutscht als Track auf einmal in »Somewhere Over The Rainbow«, »Shimmy Shimmy Ya« trägt in jedem Ton den Willen mit sich herum, dass dieser Song einfach ein Hit werden muss, und »Drunk Game« verkommt zu einer sympathisch unangenehmen R’n’B-Nummer. Und darüber Ol‘ Dirty Bastard als Herrscher der Unordnung und des moralischen Verfalls.

Auf diesem Album befinden sich 17 Schwinger, die mit jedem Beat, mit jeder Zeile treffen.

Im Jahr 2020 geht dem genialen Irrsinn ein wenig die Provokation ab. Doch der Wu-Tang Clan tauchte damals in einem Genre auf, das sich auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wiederfand. Von der US-Ostküste kam ein brutaler Sound, in dem sich die Texte der Rapper wiederspiegelten. Die Wut und der Hass drücken sich aus. Und die Katharsis setzt beim Hörer ein. Sein eigener Zorn verpufft. So die Theorie. »Deine Lyrics können großartig sein, aber Du musst etwas dahinter haben«, sagte Ol‘ Dirty Bastard damals in einem Interview. »Du musst Gewicht dahinter haben, es ist wie ein Box-Kampf.« Und auf diesem Album befinden sich 17 Schwinger, die mit jedem Beat, mit jeder Zeile treffen.

Aus heutiger Sicht überrascht auch die Bandbreite an Atmosphären, an Stilen, die Ol‘ Dirty Bastard hier bespielt. Soviel Varianz hatten Mitte der 1990er Jahre die wenigsten Rap-Alben. Übrigens auch anerkannt von der versammelten Musikkritik heute wie damals. Selbst im miefigen Rolling Stone gab es vier Sterne und Lob für den »wohl originellsten Vokalisten in der Geschichte des Hip-Hop«. In zahlreichen Alltime-Alben-Listen schafft es »Return To The 36 Chambers« ebenfalls in der Gegenwart noch zumindest unter die lobenden Erwähnungen. Weil dieses Album und der Wu-Tang Clan insgesamt ja alles vorwegnahmen, was ein paar Jahre später OFWGKTA erneut erfolgreich ausprobieren wird. Inklusive der Provokation.

Ol' Dirty Bastard
Return To The 36 Chambers: The Dirty Version
Get On Down • 2012 • ab 33.99€
Natürlich fehlt diese Komponente heute. Wenn Ol‘ Dirty Bastard mit dem Stöhnen anfängt, provoziert dies wohl niemanden mehr ernsthaft. Sowohl Pop als auch Hip-Hop haben hier den Maßstab etwas niedriger gelegt. Trotzdem findet die rohe Energie dieses Albums ihren Weg bis in dieses Jahrzehnt. So unverfälscht zeigten sich die wenigsten Künstler. Es folgen: Ein Auftritt in einem Remix von Mariah Carey (Ol‘ Dirty Bastard erschien drei Stunden zu spät und merklich angetrunken), der Diebstahl von Sneakern (das gemopste Paar sollte 50 US-Dollar kosten, ODB trug zu dem Zeitpunkt allerdings 500 US-Dollar bei sich), diverse Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Alkohol und wirre Auftritte bei MTV und den Grammys.

Mit »Nigga Please« erscheint vier Jahre später seine zweite Platte. Es wird sein letztes Album zu Lebzeiten sein. Ol‘ Dirty Bastard bricht 2004 im Alter von 35 Jahren in RZAs Studio in New York zusammen. Er stirbt an einer Herzattacke aufgrund einer Drogenüberdosis. Seine Worte, sein ungewöhnlicher Reimstil, sein Wahnsinn bleiben. Es gab nur einen Dirty. Er bleibt bis heute in seiner Vehemenz, in seiner Energie unerreicht.


Die Musik von Ol Dirty Bastard findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/ol-dirty-bastard-us-hip-hop/i:A1221D2N13S6U9.)