Review

Venetian Snares

Rossz Csillag Alatt Született

Planet µ • 2021

Die ungarische Musikgeschichte hat ihre eigene Version des Werther-Effekts hervorgebracht: Der im Jahr 1932 von László Jávor geschriebene Text zum Lied »Szomorú Vasárnap« (»Trauriger Sonntag«) soll Menschen immer noch regelmäßig zum Suizid bewegen. Weshalb auch Aaron Funk sich des Stoffs annahm, als er inspiriert von einer Reise durch Ungarn an der im Jahr 2005 veröffentlichten LP »Rossz Csillag Alatt Született« zu arbeiten begann. Ausgehend von einer Fantasie von sich selbst als Taube, die durch den Budapester Burgpalast flattert (okay!?), schrieb der damals schon fest als unumstößliche Größe der Breakcore-Szene bekannte Produzent sein vermutlich ambitioniertestes Album überhaupt. Der absurdistische Humor, der viele der Veröffentlichungen von Venetian Snares so eindeutig geprägt hatte, wich der sonderbaren Melancholie eines traurigen Sonntags und spiegelte sich in der Auswahl einer Reihe von Samples aus dem klassischen Kanon wider, angefangen mit Georg Philipp Telemann bis hin zu Bela Bartók. Venetian Snares nahm sich dieses Ausgangsmaterial, zerschnipselt es in seine Einzelteile und führt es mit brutaler Konsequenz mit verworrenen, wieder und wieder von Bitcrusher-Effekten und Hoover-Sounds kontrapunktierten Stotter-Beats zusammen. Kaum ein Takt klingt wie der vorige, doch hält sich die paranoide bis sogar psychotische Atmoshpäre das gesamte Album über wie selten in Funks breitem Backkatalog – Darkjazz-Anleihen, ahnungsvoller IDM, totale Ausrastmomente, all schmiegt sich nahezu liebevoll aneinander. »Rossz Csillag Alatt Született« (etwa: »Unter dem falschen Stern geboren«) breitet irrwitzige Kontraste im Overdrive aus, integriert sie aber mit meisterhafter Konsequenz. Nirgendwo sonst wird das eindringlicher als im Stop-and-Go-Hip-Hop von »Öngyilkos Vasárnap«, auf dem Funk Billie Holidays Version von »Szomorú Vasárnap« mit peitschenden Staccati ihre Stimme geradezu zu erstechen scheint. Ob das seine Hörerschaft in den Freitod getrieben hat, ist nicht übermittelt. Klar ist nur, dass das Album weiterhin ein surreales Eigenleben führt – als Meilenstein der elektronischen Musik des 21. Jahrhunderts.