Sollte der Tag kommen, an dem die ganze Welt befriedet ist, Ali Farka Touré wird aus den Lautsprechern der Lastenräder erklingen. Seit fast 60 Jahren veröffentlicht der malische Musiker inzwischen diesen Sound, den JUNGE LEUTE am ehesten von den Filles de Illighadad kennen dürften. Die kommen zwar aus dem Nachbarland, Niger, der Vibe ist aber, zumindest für westliche Ohren, der gleiche: trance-stiftende Folk-Musik, gleichermaßen sedierend wie animierend, eine wunderschöne, ausgleichende Kraft, die hier von einer akustischen Gitarre, Gesang und traditioniellen Begleitinstrumenten ausgeht. Die Reissue dieses, des grünen, selbstbetitelten Albums (davon gab es in den 80ern einige) kommt jetzt, digital von den OG-Tapes remastered.
Pippo KuhzartBen Webster war einer der Big-Three im Jazz der röhrenden Twenties. Er trötete sich bei Duke Ellington ins Rampenlicht, inspirierte später Coltrane zum Bebop-Rodeo und steppte als Sideman von Holiday über Tatum bis hin zu Fitzgerald in jede Rolle, die man mit einem umgeschnallten Tenorsaxophon ausfüllen konnte. Wer seinen Wikipedia-Artikel liest, findet Stoff für zwölf Romane. Einer davon spielt in Holland, wo »In Hot House« herkommt. Tidal Waves legt die Platte exklusiv auf – zum ersten Mal seit einem Fan-Bootleg 1979.
Christoph BenkeserDavid Byrne, seines Zeichens Mitgründer der Talking Heads, schwamm sich Anfangs der 80er frei von Erwartungen. Mit seiner Band hatte er mit »Remain In Light« gerade einen Meilenstein vorgelegt. Was nun? Solo-Alben! Und Ballett! Mit »The Catherine Wheel« schrieb er die Musik für ein Projekt der Choreographin Twyla Tharp. Synthesizer und Effekte rauschen über vertrackte Rhythmen, alles windschief, klar, aber tanzbar. Ein nicht zu unterschätzendes Album in seinem Schaffen, jede Sekunde herrlich verkopft.
Björn BischoffDie amerikanisch-britische Songwriterin Celeste gehört zu den nicht mehr ganz so geheimen Geheimtipps des Neo-Souls. Ihre eindringliche Stimme, ihr Sound mit Einflüssen aus Jazz, Blues und R&B gehen ins Ohr und bleiben im Kopf. »Lately«, der Titelstück einer vor vier Jahren nur in den USA erschienenen EP, ist ein perfektes Beispiel für ihre Stärken, ebenso ihr Hit »Strange«, der reduziert vor ganz feinem Arrangement dahinzieht. Was dann auch die letzten Zweifel ausräumt: Celeste gehört zu den derzeit spannendsten und besten Stimmen des Genres.
Björn BischoffPuhu, der wirkliche rare Shit. 45 Aufrufe auf Youtube. Zuletzt verkauft: nie. El Zigui nannten sie wohl den Dylan Venezuelas, zu Ruhm aber kam er nicht. »Buenos Dias Juventud« ist ein Album voller Protest-Songs. Klassischer Folk-Rock, im weitesten Sinne, US-Einflüsse verbinden sich hier sehr deutlich benennbar mit regionalen Sounds – und der Zither. Die frühen 70er strömen dem Album aus jeder Pore, hier steckt noch die ganze Kraft und die ganze Verzweiflung drin, die ein Mensch hat, wenn er an etwas glaubt.
Pippo Kuhzart»Während die Musik von schnellen und lärmenden Gitarren und geschrienem Gesang dominiert war, drehten sich die Texte von Heroin um Desillusion und Schmerz.« Dank Wikipedia ist alles gesagt, was man über die Schreihälse aus den USA der frühen 1990er wissen sollte – bevor man sich die gesammelten Werke als knackige Katalogschau von einem Dutzend Tracks auf Southern Lord in die Gehörgänge schießt.
Christoph BenkeserDieses lange verschollene Meisterwerk des Trios um Joyce Moreno (Gesang), dem Percussionisten Nana Vasconcelos und der Produktionsmaschine Mauricio Maestro, der hier den Bass übernimmt, ist faszinierend, hypnotisch, ergreifend, voll glockenklarer Brillianz und ein leider viel zu kurzer Einblick in eine brasilianische Szene im Umbruch. Ein psychedelischer Trip durch die Welt des Tropicalismo eines Caetano Velosos mit klaren, man sagt heute, New-Age-Bezügen und lysergischen Träumen.
Lars FleischmannMax Romeo sollte man kennen als den Mann, der in einem eisernen Shirt den Teufel vonna der Welt vertrieben hat. Super Alben veröffentlicht auch, das Debüt oder auch »War Ina Babylon« fallen direkt ein. Zwischen diesen beiden LPs erschien »Every Man Ought To Know«, das nun, zum ersten Mal, neu aufgelegt wird. Nicht nur für Romeo-Komplettisten, sondern auch für Reggae-Fans allgemein ein sicherer Tipp.
Pippo KuhzartSchief, aber von Herzen: Die britische Indie-Band Porridge Radio holt die Tradition des Geschrammels hervor und zelebriert einen Sound so ehrlich, dass es schmerzt. Im Song »7 Seconds« in die Worte gegossen: »And I miss you but I’ll never ever, ever, ever, ever…« und so weiter. Untermalt von Gitarre, Drums und Synthesizern. Lieben und leben sind verwirrende bis schmerzhafte Tätigkeiten, Porridge Radio haben das in ihrem Sound komplett verinnerlicht. Und nach diesen vier Minuten jeder auf der anderen Seite der Lautsprecher auch.
Björn BischoffBekanntermaßen ist das Duo um den charismatischen Alan Vega und dem Nerd Martin Rev nicht nur Schablone für DAF gewesen, sondern Inspiration für Trilliarden an Bands und Projekten. Suicide ist einflussreicher, als die Pop-Geschichtsschreibung das vermuten lassen würde. Deswegen sind diese vier Raritäten aus der Phase des womöglich besten Albums der Band so essentiell: Nicht nur beim Springsteen-Cover hört man deutlich, wie Vega und Rev die Underground-Szene veränderten – und damit in der Folge, logischerweise, auch die großen Bühnen.
Lars FleischmannThe Purist und Sonnyjim, zwei Heads aus dem UK, fahren aufs Festival nach Kroatien, kommen zurück ins Studio und basteln einen Beat, der kickt, als hätte MF Doom … Moment mal: »Wieso schicken wir ihm das Ding nicht einfach?« Doom antwortet mit einem 16er. Der Schampus perlt. Das Teil landet bei Jay Electronica. Als MF den Track für einen TV-Sender lizenzieren will, checken Purist und Sonny: »Barz Simpson« lässt sich vergolden. Zwei Jahre später ist Doom tot, aber ein Album draußen. Und jetzt: die limitierte 7inch
Christoph BenkeserWas passiert, wenn man einem Allwissenden wie Gilles Peterson den Schlüssel fürs Musik-Archiv in die Hand steckt? Warner wollte es herausfinden – und ließ mit »Yusef Lateef's Detroit: Latitude 42º 30' Longitude 83º« eines der coolsten Flöten-Funk-und-Blaxploitation-Scheiben des Woodstock-Sommers heben. 1969 erschienen, klingt die Platte von Lateef ein halbes Jahrhundert später so fresh wie Jazz aus der Kühlkammer. Kein Wunder, dass MF Doom den Tonarm schon vor 25 Jahren ausgefahren hat.
Christoph Benkeser