Anleitung zum Jungbleiben mit Marcos Valle, Legende der Bossa Nova

12.09.2023
Foto:© Leo Aversa (Far Out Recordings))
Seit Jahrzehnten schreibt Marcos Valle an seiner Interpretation von Bossa Nova, der musikalischen Identität Brasiliens. Zum runden Geburtstag feiern wir den ewig jungen Lockenkopf mit einem Porträt.

Marcos Valle wird 80. Zumindest steht das in der Geburtsurkunde des brasilianischen Musikers, der nebenberuflich Nationalheld ist und mit seiner gelockten Surferfrisur immer noch so aussieht, als hätte er so eben die Bossa Nova geritten. Dass ihm das Alter nichts anhaben kann, hängt nicht nur damit zusammen, dass Valle jeden Tag am Strand von Rio seine Muckis flext. Es hat auch mit dem sogenannten Lebensgefühl zu tun, dass der Fruchtsaft-Junkie über all die Jahrzehnte eingefangen hat. Immer geht es um Sommer, Sonne und das, was man sich gemeinhin unter dem Wörtchen Copacabana zusammenträumt.

Auf dem Cover seiner ersten Platte, die 1963 erscheint, grinst uns ein gestriegelter Jüngling entgegen. Die Stücke handeln von: gebrochenem Herzen, dem weiten Meer und der strahlenden Sonne. Sie haben Erfolg. Wenn Valle wie aktuell auf seiner Geburtstagstour die Bühne betritt, spielt er Songs, die während seiner 60-jährigen Karriere entstanden sind. Schließlich wurde der Lockenmann mit Bossa Nova bekannt – ein Stil, der Ende der 1950er im Schatten der Christusstatue entsteht und von dort aus über den Atlantik schwappt. Valle, damals keine 20 Jahre jung, versteht das plattenverkaufende Prinzip schnell. Sing von den bitterschönen Dingen im Leben – Liebe, Lust, Samba de Janeiro – und lächle dazu.

Das vom Anwaltsvater angedachte Jura-Studium bricht Marcos Valle nach der Veröffentlichung des Debüts ab. Statt einem Recht zu schweigen, nimmt er seine Pflicht zu singen wahr. Valle komponiert in den 60er Jahren wie ein Besessener, während sein Bruder die Texte schreibt. Es erscheint »O Compositor E O Cantor«, das Valle dank Schlager-Soul und Fahrstuhl-Feelings berühmt macht. Danach fährt er als Teil der Band von Sérgio Mendes auf US-Tour und verprügelt Hollywood-Star Marlon Brando, weil der auf Bongos trommelnd seine Freundin anbaggert.

»Ich wusste nicht, wie lange ich von Brasilien weg sein würde. Ich wusste nur, dass ich gehen muss.«

Marcos Valle

1964 putscht Brasiliens Militär die Regierung. Über 20 Jahre Diktatur sollten folgen, viele Künstler:innen fliehen. Valle will bleiben und singen. »Wir übrig gebliebenen Musiker haben uns regelmäßig getroffen, um die Situation zu besprechen und darüber nachzudenken, wie wir mit unserer Musik die Rückkehr der Demokratie beschleunigen könnten«, sagte Valle in einem Interview mit Jazzwax. »Mein Bruder und ich begannen, in den Liedern soziale Themen anzusprechen. Von diesem Zeitpunkt an hatten wir immer Probleme mit der Zensur.«

Mit Alben wie »Previsão Do Tempo«, das 1973 erscheint, hisst Valle an der Copacabana die gelbe Flagge: Achtung, Gefahr! Die sambatrippelnde Leichtigkeit mag zwar nicht ganz verschwinden, aber wer zuhört, merkt: Valle hat arge Probleme, der Unterdrückung in seinem Land mit good vibes only zu begegnen. 1975 steigt erschließlich mit einem One-Way-Ticket in den Flieger nach New York. »Ich wusste nicht, wie lange ich von Brasilien weg sein würde. Ich wusste nur, dass ich gehen muss«, sagte Valle zum Magazin Sounds and Colors.

Die Valle-Welle bricht nicht

In New York trifft Valle zwar Freunde wie den Komponisten Eumir Deodato, vermisst aber die tropischen Vibes von Rio. Er wechselt bald die Küstenseiten. In Los Angeles säuselt er mit Sarah Vaughan einen Beatles-Song und setzt sich mit Marvin-Gaye-Producer Leon Ware ins Studio. Als Valle 1981 zurück in seine Heimat fliegt, hat er Masterbänder für drei Alben im Gepäck – und eine Idee, die gerade aufgehängten Discokugeln in Schwung zu bringen.

Mit »Estrelar« erscheint kurz darauf ein Song, der mit fast sechs Millionen Klicks auf YouTube bis heute einer der erfolgreichsten von Valle ist. Darauf kombiniert er brasilianische Rhythmen mit Boogie und Funk, den ihm Ware in Los Angeles ins Songbuch geschrieben hat. Der große Erfolg währt nur kurz. Ab Mitte der 80er verändert sich die Musik in Brasilien, »sie wurde immer kommerzieller«, wie Valle später sagte. »Also ließ ich es erstmal bleiben mit dem Aufnehmen, ich sagte immer, die richtige Zeit wird schon noch kommen.«

Valle weiß nicht, dass sie ein paar Jahre später aus London kommen würde. In den 90ern spielen DJs in der britischen Hauptstadt seine Platten. Joe Davis, der britische Brasilo-Enthusiast von Far Out Recordings, lässt es sich mehrere Ferngespräche kosten, mit Valle in Verbindung zu treten. Mit Erfolg. Die beiden verstehen sich, eine Platte erscheint: »Nova Bossa Nova«, der neue Bossa Nova. Valle, zu dem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt, macht darauf mit Broken Beats bis Deep House so ziemlich alles anders, für das er und die alte Welle gestanden haben.

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Mit dieser »Mischung aus Freude und Glück«, wie Valle sagte, landet er im neuen Jahrtausend immer öfter auf Turntables von DJs. Künstler wie Kanye West oder Jay-Z sampeln sich außerdem durch sein Frühwerk, das bald auf der Reissue-Welle in Bars und Wohnzimmern landet. Valle, der nicht in der Vergangenheit stehengeblieben ist, gibt sich aber nicht mit ein paar Wiederveröffentlichungen zufrieden. Wenn er nicht gerade die Strände Rios entlangspaziert oder Gewichte stemmt, nimmt er weiter auf. In den letzten Jahren erschienen deshalb so viele neue Alben wie zu seiner sturmdränglerischen Phase während der 60er. Damals war Valle blutjunge 20. Kein Jahr älter, als er sich heute fühlt.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts

Brasilianischer Jazz

Unter dem Themenschwerpunkt »Brasilianischer Jazz« fassen wir Beiträge zur aus Brasilien stammenden Jazz-Musik, sowie einen stark von Bossa Nova beeinflussten Jazz-Stil zusammen.

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