Marcos Valle weiß genau, warum er mit bald 81 so aussieht, als hätte er vor einem halben Leben aufgehört, an die Vergänglichkeit zu glauben. »Es ist der Spaß, das Meer und die Liebe«, sagt der brasilianische Bossa-Nova-Musiker. »Und je älter ich werde, desto mehr habe ich davon.« Valle lacht, wie man lacht, wenn man gerade wie er aus einem Viertausend-Quadratmeter-Penthouse auf den Atlantik blickt.
In seiner Heimat Rio de Janeiro kennen ihn alle. Marcos Valle ist ein Star. Einer, der einige der schönsten Schmonzetten geschrieben hat, die der Zuckerhut je hervorgebracht hat. Einer, der zum Fruchtsaft-Influencer wurde, bevor es dafür ein Wort gab. Und einer, der selbst nach seiner Flucht in die USA immer den Weg zurück nach Brasilien fand.
In über 60 Jahre hat Marcos Valle drei Dutzend Alben aufgenommen. Bald veröffentlicht er das nächste: »Tunel Acustico« erscheint auf Far Out Recordings – jenem Label, das Valle in den späten Neunzigerjahren zuerst nach Europa und bald in die Clubs brachte. Seither hat er Deep House ausprobiert, mit Jazzmusikanten improvisiert und neben dem Bossa Nova auch gleich die Liebe gerettet.
»Nach all den Jahren wollen mich die Leute noch immer hören«, sagt Valle. »Und solange sie mich hören, geht es mir gut.« Angesichts immer neuer Tourtermine auf der ganzen Welt kann das nur bedeuten: Marcos Valle aufmerksam zuzuhören. Auf der Bühne. Oder wie hier, im Gespräch über innere Dialoge und das gute Leben.
Marcos, glaubst du an Gott?
Marcos Valle: Ja, auch wenn ich erst mit zunehmendem Alter gelernt habe, an Gott zu glauben. Aber selbst in jüngeren Jahren war ich immer auf der Suche nach etwas, ich hatte diesen inneren Drang, etwas zu finden – bis ich realisierte, dass die Musik mein Beweis für Gott ist. Seitdem brauche ich nichts anderes. Heute spreche ich mit Gott wie mit einem Freund. Wenn ich auf die Bühne gehe, wenn ich sie verlasse. Er ist die ganze Zeit bei mir.
Worüber redet ihr?
Marcos Valle: Gott ist in mir, ich will ihn nicht als etwas ansehen, das außerhalb von mir existiert. Es ist also eher ein innerer Dialog, eine Reflexion über mich selbst.
War deine Familie religiös?
Marcos Valle: Meine Familie war katholisch, aber ich weiß nicht, wie sehr sie tatsächlich daran glaubten. Ich vermute, dass mein Vater gläubig war. Zumindest ging er jeden Sonntag in die Kirche. Als ich jünger war, musste ich auch auf eine katholische Schule. Aber ich habe diesen Teil von mir viele Jahre unbeachtet lassen. Später kam der Glaube auf verschiedene Weise wieder durch, zum Beispiel: Ich habe oft darüber nachgedacht, was nach dem Tod passiert.
Welche Antwort hast du gefunden?
Marcos Valle: Sagen wir mal so: Das Alter ist ein Vorteil, weil man über sein Leben und das, was hinter einem liegt, nachdenken kann. Und je mehr man erlebt, desto bescheidener wird man. Zumindest bei mir ist das so. Ich denke nicht, dass ich der Beste bin und sich alles um mich dreht. Ich drehe mich eher um das Leben. Sobald man das erkennt, hört man zu. Man will schließlich dazulernen.
Sogar mit fast 81 Jahren?
Marcos Valle: Auch wenn man älter ist, gibt es immer noch so viele Dinge zu lernen. Dafür muss man aber an etwas glauben. Und das Alter kann zum Glauben führen.
Der Glaube lässt dich also lernen?
Marcos Valle: Ja. Wenn man erfolgreich und berühmt ist, kann man nämlich zu einer seltsamen Person werden. Man vergisst leicht, dass es die Menschen sind, die einen berühmt gemacht haben, aber: Wenn es niemanden gibt, der deine Musik liebt, bist du nichts. Deshalb liebe ich es, mit den Leuten zu sprechen. Nach den Konzerten, auf der Straße. Ich mache das gerne, weil ich weiß, dass sie meine Musik lieben. Und ich möchte sie zurück lieben.
Ich nehme an, dass du dafür viel Liebe brauchst?
Marcos Valle: Ich kann in Rio nicht rausgehen, ohne dass die Leute mich erkennen, ja. Aber ich fühle mich nie unwohl dabei. Wenn es möglich ist, rede ich mit allen, denn das ist Teil der Show.
»Selbst als ich jünger war, habe ich die Nacht mehr genossen, weil sie einer der wenigen Momente war, in denen ich allein sein konnte.«
Marcos Valle
Du hast nie das Gefühl, dass es zu viel ist?
Marcos Valle: Man muss ein Gleichgewicht finden, besonders wenn man über 80 ist. Deshalb halte ich mich in Form. Ich gehe an den Strand, ich wohne am Meer. Und ich liebe das Wasser! Es gibt mir ein gutes Gefühl. Ich kann dort stundenlang spazieren gehen. Wenn ich nach Hause komme, mache ich ein paar Übungen mit Gewichten – keine schweren, weil ich Klavier spiele und keine dicken Hände bekommen will. Aber ich trainiere. Außerdem ernähre ich mich gesund und verzichte auf Fleisch.
Du bist Vegetarier?
Marcos Valle: Na ja, ich esse Hühnchen und Fisch, also…
Leichtes Fleisch?
Marcos Valle: Genau. Dazu kommt, dass man in Brasilien viel Bohnen isst. Die sind gut für die Gesundheit. Kombiniere all das mit einem guten Schlaf und…
Ich habe gehört, dass du ziemlich spät ins Bett gehst.
Marcos Valle: Um 2 Uhr, ja. Die Nacht bringt mir einen Moment der Freude. Alles ist ruhig, niemand ruft mich an. Und ich habe eine Gewohnheit, die mir hilft, wenn ich auf Tournee bin. Denn da kommt man nie früh ins Bett und wacht immer spät auf.
Warst du schon immer ein Nachtmensch?
Marcos Valle: Ja, selbst als ich jünger war, habe ich die Nacht mehr genossen, weil sie einer der wenigen Momente war, in denen ich allein sein konnte.
Du bist an der Copacabana in der Nähe der »Bottle Alley« aufgewachsen. Die Nacht muss für dich immer in Bewegung gewesen sein.
Marcos Valle: Es war eine fantastische, optimistische Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Die Wirtschaft boomte, wir hatten einen großartigen Präsidenten und auf den Straßen brauchte man sich keine Sorgen um Diebe oder Gewalt zu machen. Natürlich gab es auch zu dieser Zeit soziale Unterschiede. Aber die Zeiten waren weicher, irgendwie entspannter. Nur deshalb konnte der Bossa Nova entstehen. Die Musik war ein perfektes Porträt von Rio.
Hattest du eine glückliche Kindheit?
Marcos Valle: Ja, ich wurde in eine Mittelklasse-Familie hineingeboren und ich liebte es, in unserem Haus an der Copacabana zu sein. Wenn ich die Fenster öffnete, konnte ich immer Musik hören. Am besten erinnere ich mich an den Karneval, obwohl wir zu dieser Zeit meistens in die Berge fuhren. Mein Großvater hatte ein Haus in Friburgo, dort waren wir dann. Allerdings entdeckte ich auch bald die Clubs der Stadt. Dort wurde richtige Musik gespielt. Nicht Samba. Es waren eher Märsche. Jedenfalls machte mich diese Musik glücklich. Außerdem liebte mein Vater die Musiker seiner Zeit, zum Beispiel Dorival Caymmi. Meine Großmutter, eine großartige Pianistin, brachte mir hingegen Beethoven und Bach näher. In meinem Kopf kamen all diese verschiedenen Kompositionen zusammen.
Kannst du ein wenig mehr über deine Kindheit in Rio erzählen?
Marcos Valle: Wir haben immer in der Nähe des Strandes gewohnt, weil mein Vater gerne im Meer schwamm. Ich erinnere mich also daran, dass alle möglichen Leute aus unterschiedlichen sozialen Schichten an den Strand kamen. Niemand kümmerte sich darum, woher man kam. Mein Vater sprach immer mit allen. So bin ich aufgewachsen. Davon profitiere ich immer noch, wenn Menschen auf mich zukommen – ich bin offen für das, was sie zu sagen haben.
Aber die Zeiten waren weicher, irgendwie entspannter. Nur deshalb konnte der Bossa Nova entstehen.
Die Offenheit des Meeres geht einher mit der Offenheit deines Geistes. Klingt gut?
Marcos Valle: Ja, darum geht es. Und um Liebe! Ich liebe es zu lieben. So wie ich die Natur liebe – nicht nur das Meer, sondern auch die Berge und Flüsse, die Pferde und Grillen. Sogar den Regen, er ist so schön! Ich liebe es, wenn es regnet.
Liebe ist in deiner Musik immer ein großes Thema gewesen. Wie hat sich die Bedeutung dieses Wortes im Verlauf von 60 Jahren verändert?
Marcos Valle: Ich habe viele verschiedene politische und soziale Situationen durchlebt, und das hat meine Musik immer verändert. Den größten Einfluss hatte die Militärdiktatur, die 1964 begann. Plötzlich war es durch die Zensur verboten, etwas Politisches zu sagen. Wir als Künstler erkannten aber, dass es wichtig war, den Menschen Informationen zu vermitteln. Deshalb änderten wir unsere Worte und sagten etwas, das die Regierung nicht zensieren würde. Das hat meine Musik verändert, aber niemals meine Gefühle.
Wie meinst du das?
Marcos Valle: Nehmen wir eines meiner neueren Alben, »Cinzento« von 2020. Es ist ein Kommentar darüber, wie schlecht unsere Regierung zu dieser Zeit war und wie sehr unsere Kultur darunter litt. Du hörst darauf dieselbe Energie, die ich vor 60 Jahren in meine Musik gebracht habe. Deshalb kann ich bei meinen Auftritten sowohl ältere Songs spielen als auch meine neuen. Sie sind alle unterschiedlich, aber sie haben dieselbe Energie.
Also ist Liebe tatsächlich universell?
Marcos Valle: Wahre Liebe ist es immer. Das heißt nicht, dass ich blind bin für das, was um mich herum passiert. Ich bin froh, dass Lula jetzt Präsident ist, weil das Glück zurückgekehrt ist. Vorher steuerten wir in eine gefährliche Richtung. Ich meine damit: die Extreme – ob sie nun rechts oder links sind –, die Menschen um den Verstand bringen. Plötzlich folgen die Leute nur noch, ohne zu denken. Das führt dazu, dass Freunde zu streiten beginnen. Aber: Das ist nicht Brasilien. Das Land war immer ein freundlicher Ort. Es darf hier niemals an Liebe mangeln.
Ich werde jetzt etwas sehr Pathetisches sagen, aber: Hass lässt sich leichter ertragen, wenn man am Meer lebt, oder?
Marcos Valle: Ja, und weißt du, warum? Weil am Strand Menschen aus verschiedenen Schichten und Ethnien zusammenkommen. Wir spielen Fußball, liegen in der Sonne oder treffen uns einfach zum Abhängen. Der Strand ist demokratisches Terrain.
Ist das der Grund, warum du immer wieder nach Rio zurückgekehrt bist? Wegen des Strandes?
Marcos Valle: Auf jeden Fall. Schon als ich 1975 Brasilien verließ, wusste ich, dass ich zurückkommen würde. Stell dich mich mal für längere Zeit in New York vor. Dieses eine Jahr in den Siebzigern war eine schreckliche Zeit für mich, weil ich das Meer so sehr vermisst habe.
Deshalb bist du danach nach Los Angeles gezogen, richtig?
Marcos Valle: Das war besser, weil ich näher am Meer war. Und Sarah Vaughan sang meine Songs und Leon Ware wurde mein Produzent. Überhaupt traf ich dort eine Menge anderer Künstler. Aber selbst dort habe ich versucht, aus Los Angeles ein Rio de Janeiro zu machen.
Dein altes Petrof-Klavier ist aber immer in Rio geblieben?
Marcos Valle: Ja, immer! Es ist Teil meines Lebens. Wenn ich an diesem Klavier sitze, fühle ich meine Mutter bei mir, denn sie hat es mir gekauft, als ich ein Kind war. Sie war wirklich die wichtigste Person in meinem Leben. Schließlich hat sie mich dazu gebracht, meinen Traum zu verfolgen.
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Ich frage mich, welche Geschichte dieses Klavier erzählen würde, wenn es sprechen könnte.
Marcos Valle: Es würde so viele verschiedene Geschichten erzählen, weil darin so viele verschiedene Seelen leben. Menschen wie Jobim, Herbie Hancock, Milton Nascimento und Henry Mancini haben darauf gespielt. Inzwischen sind einige Tasten gelb, aber ich möchte es so belassen. Auch sie erzählen die Geschichte dieses Klaviers.
Eine allerletzte Frage noch: Was magst du an dir?
Marcos Valle: Was für eine Frage!
Hast du nie darüber nachgedacht?
Marcos Valle: Na ja, schon, aber … Es muss nicht unbedingt etwas Körperliches sein, oder?
Du kannst sagen, was du fühlst.
Marcos Valle: Ich liebe an mir, dass ich dankbar sein kann. Manchmal sage ich mir: Marcos, es ist toll, dass du nicht denkst, du seist ein Genie. Du machst einfach Musik, weil Gott es so will. Und so folge ich Gott, wenn er mich durchs Leben lenkt. Er ist meine Medizin. Und schau mal, wohin er mich geführt hat.