Dieses Jahr war ein halbes, das doppelt zählte. Kurzer Flashback: Das Jahr begann nüchtern und ernüchtert im Lockdown-Limbo, das Wetter passte sich dem an: Noch im Mai fiel Schnee, drehte uns von jenseits der Fensterscheiben eine lange Nase. Nur danach ging alles auf einen Schlag ganz schnell, füllten sich plötzlich die Bars und Restaurants wieder, begann dieses Ding namens Kulturleben dem zweiten Teil dieses Kompositums wieder gerecht zu werden. Ein Konzert nach dem nächsten, dort ein Open-Air-Rave, endlich keine Streams mehr. Und irgendwann waren selbst die Clubs wieder offen. Auch das aber ist wieder vorbei und die Perspektive ist düster. Über 100.000 Menschen sind an den Folgen einer Infektion mit diesem Virus gestorben, der anderswo in der Welt wesentlich effizienter in Schach gehalten wird, irgendwas wird also geschehen müssen, um noch mehr Opfer zu verhindern und das seit anderthalb Jahren schon lange jenseits der Belastungsgrenzen arbeitende Gesundheitssystem zu entlasten.
Es bleibt: Ja, die Musik. Sowieso. Immer. Alben wie die von Bendik Giske, Claire Rousay, Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra, Laila Sakini, Loraine James, Nala Sinephro und vielen anderen in der folgenden Liste mit den 50 Schallplatten, auf denen das Albumformat in diesem Jahr am erfolgreichsten gemeistert wurde, erkundeten Innenräume – ob nun dezidiert häusliche Settings, abstrakte Gefühlswelten, einen Hauch von Intimität in der Isolationshaft. Aber es gibt mit Blick über diese LPs auch diejenige Musik, die raus wollte. Angel Bat Dawid & Tha Brothahood, DJ Manny, Emeka Ogboh, Guedra Guedra, Haftbefehl, Joy Orbison, Lea Bertucci, Scotch Rolex – sie alle und noch mehr nahmen mit der Welt Kontakt auf, erkundeten sie musikalisch oder sperrten zumindest die Clubtür wieder sperrangelweit auf.
Das hilft, aber es reicht nicht. Denn nach zwölf Monaten bleibt noch etwas anderes über: Müdigkeit, bisweilen Wut. Müdigkeit angesichts dessen, was vielleicht die kommende Zeit erneut zu erwarten sein könnte, Müdigkeit darüber, nach einem getätigten Tanzschritt wieder zwei rückwärts springen zu müssen. Darüber, das Leben geschmeckt zu haben und es nun wieder ausspucken zu müssen. Hat hier noch jemand ein gutes Sauerteigrezept über? Hilft ja nichts. Und da wäre noch die Wut, ja. Die Wut über politische Entscheidungen oder ihr Ausbleiben, die Wut über all jene, die nach anderthalb Jahren den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen haben, nein, pardon, seien wir ehrlich: sich weigern, ihn anzuerkennen. So lässt sich nur schwer nach vorne blicken, weshalb wir uns erst einmal umdrehen – hinter uns liegen zwölf Monate, in denen andere neue Perspektiven geschaffen haben, und seien es auch nur musikalische. Das ist doch was. Oder? Kristoffer Cornils