Besser wird es auf keinen Fall. Die Sachlage ist ja eindeutig: Die Autokraten kommen, die Maschinen eh, der Meeresspiegel steigt, das Niveau sinkt. Es hat sich um einen herum das Gefühl eingeschlichen, dass die Realität umfassend und – abgeschlossen bekannt – ja alternativlos sei.
2025 haftet dem Zustand, den wir Gegenwart nennen etwas Totales an. Die alternativlose Gegenwart ragt, begünstigt auch durch das Flachland des Internets, in die Zukunft hinein. Der Zustand wirft seinen Schatten voraus. Eine Abweichung oder Veränderung scheint unmöglich, und wenn sich doch was ändern sollte, denken alle (im Westen): zum Schlechten.
Die Möglichkeit noch unbekannter Gutheit scheint nicht mehr berücksichtigt zu werden, es fehlt halt in der säkularisierten Welt vielerorts die Idee, wie das Beyond anzuzapfen sei.

Let The Spirit Out Live At "Mu" London

Journey To Nabta Play

Ashram Sun Deluxe Edition

Organic Nation Listening Club (The Continual)
Auf einem Konzert in Hamburg im Rahmen des Über Jazz Festivals spielt Kahil El Zabar eines der Stücke von seinem im Dezember erscheinenden neuen Live-Album. »From Your Heart« heißt es. Es ist ein Gesuch nach gemeinsamer Einkehr. Nach Abklingen des letzten Anschlags seiner Kalimba wendet sich Zabar an das Publikum und ruft dazu auf, dass WIR nicht vergessen dürften zu träumen. Was nach Wand-Tattoo klingt, ist im November 2025 ein profunder Reminder: Ein Reminder daran, dass man durchaus glauben kann, dass es etwas Unbekanntes gibt, das größer ist, als der mickrige Zustand der Dinge. Glauben. Das ist ja nicht zwingend etwas Religions-Gebundenes. Es ist die Praxis, ohne Beweise darauf zu bestehen, dass jenseits des aktuellen Erfahrungshorizontes etwas Gutes möglich ist.
An diese Praxis erinnerte Kahil El Zabar auch an diesem Abend wieder. Wie er es mit jedem seiner Alben tut. Kahil El Zabar, der große Anzapfer. Dass das inzwischen 71-jährige Mitglied der legendären Chicagoer Vereinigung Association for the Advancement of Creative Musicians überhaupt wieder durch Europa tourt, verdanken wir zu einem wichtigen Teil dem Label Spiritmuse, auf dem auch besagtes Live-Album erscheine wird.
Die Möglichkeit anderer Erfahrungen
Gegründet haben es Mark Gallagher und Thea Ioannou, die beide leidenschaftliche gerne Platten sammeln und mit ihrem Label dazu beitragen wollen, den allgemeinen Geist zu heben, sozusagen.
»Musik, die innehalten lässt, atmen und die Hörenden etwas Höheres, Tieferes fühlen lässt«, das sei die ganze Vision, erklären die beiden im Interview.
Sie sehen einen »menschlichen Bedarf nach emotionaler Resonanz, Transzendenz und gemeinschaftlicher Erfahrung.«
Wer hat mal so einen Sitzkreis gesehen, in dem Spiritual-Jazz-Pionier Don Cherry in einem schwedischen Landhaus sitzt und mit befreundeten Musikern improvisiert? Da passiert genau das, was sich Gallagher und Ioannou wünschen. Kahil El Zabar nennt Don Cherry den »essentiellen, ikonischen, urbanen Shamanen«. Er ist nicht umsonst der geistige Pate des Londoner Labels.

Hinhören verbindet
Gallagher und Ioannou sind nun seit 20 Jahren unterwegs, angetrieben von der Suche nach »geistiger Präsenz« und Musik, die diese vermittelt.
Zehn Jahre lang veranstalten sie Partys in Süd-London, ab 2013 erforschen sie mit ihrer Radio-Show MADONJAZZ, was das alles sein kann, spirituelle Musik: Jazz, Folk-Musik aus aller Welt, Musik immer, die aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus entsteht: zur Gemeinschaft, zum Kosmos. Spiritmuse gründen sie 2018.
Als langjährige Fans von Zabar ist es dann einer ihrer ersten Moves, den Großmeister anzuhauen, um seine älteren Werke neu aufzulegen. Erschienen sind seitdem sechs neue Werke von Kahil El Zabar und seinen unterschiedlichen Kollaborateuren.
Zabar trug maßgeblich dazu bei, das Label in die Welt zu tragen.
»[Es gibt] einen menschlichen Bedarf nach emotionaler Resonanz, Transzendenz und gemeinschaftlicher Erfahrung.«
Mark Gallagher und Thea Ioannou
Aber Spiritmuse ist mehr als Kahil El Zabar. Der Keyboarder und Komponist Surya Botofasina ist mit drei Alben vertreten. Er folgt mit seiner Musik der Tradition von Alice Coltrane, in deren Ashram in Kalifornien er sogar aufwuchs: Botofasina macht meditativen, spirituellen Jazz für »deep listening«.
Dann ist da Angel Bat Dawid. Schon ihrem Künstlernamen (Tochter Davids) ist die Stoßrichtung ihrer Musik abzulesen. Es geht auch hier: higher, deeper – beyond. Angel Bat Dawid gehört fraglos zu den wichtigsten Figuren der Populär(er)-Werdung des Spiritual Jazz. Ihr auf Spiritmuse erschienenes Album Journey To Nabta Play David-Ornette-Cherry-Nichte Naima (!) Nefertari ist gleichzeitig meditatives Zwiegespräch, Gebet und Jazz-Trap.
Menschgemachter Wandel
Spiritmuse könne man fühlen, es sei ein Raum, wo »das Spirituelle und das Musikalische« sich treffen, sagen die Gallagher und Ioannou.
Man müsste jetzt über den Begriff des »Spirits« im Allgemeinen, auch über die Gründe für die lange Zeit gehemmte Entwicklung des Spiritual Jazz in Europa sprechen. Aber wir begnügen uns an dieser Stelle damit, das, was wir gemeinsam grob unter »Spirit« verstehen, neben das Groß-Phänomen der Gegenwart zu legen: Künstliche Intelligenz. Denn die eigentlich triviale Schlussfolgerung gehört hier dringend hin: Das Beseelte ist natürlich das genau Gegenstück zur K.I.
Und somit ist es es eben auch die Musik, für die Spiritmuse so sehr stellvertretend steht: Ein Gegenangebot zum Slop, zum Austauschbaren, zur Macht des Algorithmus’. Musik, die Widmung fordert und fördert – und die dann belohnt mit Gefühlen der Zugehörigkeit und inneren Weitung.
Wer schon mal nach einem Konzert von Kahil El Zabar am nächsten Tag aufgewacht ist, versteht: Heilung war kein Witz, bevor sie televised wurde. Ein Zabar-Konzert beruhigt und erhebt – und verändert den Bezug zur Gegenwart: Man fühlt wieder, dass andere Dimensionen möglich sind; dass sie ja eigentlich DA sind, und zwar vom Menschen kommend. Menschgemachter Wandel. Er ginge auch in eine ganz andere Richtung. Hier ist ein Label, dessen Prinzip es ist, an diesen Glauben zu erinnern.