Die 50 besten Schallplatten der ersten Jahreshälfte 2022

07.07.2022
Weltpolitisch eine Katastrophe, doch die Musik bringt Heilung, Trost, Innovation, verspricht Zukunft, kanalisiert Wut. Wir haben euch 50 beste Schallplatten zusammengestellt.

Die große Lehre aus den 2010er Jahren war, dass es immer noch beschissener geht und die 2020er haben uns gezeigt, wie genau das läuft – konstant bergab, nämlich. Während die globalpolitische Situation parallel zum Klima in den Abgrund strudelt und die Fallzahlen exponentiell nach oben klettern (wird ein super Sommer, sicherlich!), drehen sich immerhin die Schallplatten gewohnt unverändert im Kreis. Das ist beruhigend und das, was darauf zu hören ist, besser als gewohnt – die Leute hatten schließlich zuletzt gehörig Zeit, sich erst eine Menge Gedanken und dann erst an die Arbeit zu machen. Und mit einer geballten Ladung innovativer Ideen, künstlerischen Kniffen sowie einer gehörigen Portion Trost zurückzukehren.

Angefangen mit 700 Bliss über Batu, DJ Python, Rosa Anschütz und TSVI im Dialog mit Loraine James bieten unsere Top 50 Schallplatten dieses ersten verkorksten Halbjahres 2022 Entwürfe einer Musik, die in den mittlerweile wieder dauergeöffneten Clubs dem Business-Techno den Garaus machen könnten. Oder zeigen Anadol, Fhunyue Gao & Sven Kacirek, Park Jiha und Širom, wie Musik insgesamt noch einmal anders klingen könnte, selbst wenn sie scheinbar vertraute Formeln nochmal durchrechnet. Die wurden sowieso nochmal neu aufgestellt, insbesondere im Rap: OG Keemo ist also spätestens seit diesem Jahr der deutsche Kendrick Lamar oder unseretwegen Kendrick Lamar der US-amerikanische OG Keemo. Einerlei, weil beide einzigartig und im besten Sinne unvergleichlich.

Dreht sich alles im Kreis?

Dazwischen? Weirder Eklektizismus gegen den weirden Einheitsbrei der Nachrichtenlage und Spotify-Playlists dieser Welt. Debit, Eiko Ishibashi, Huerco S, Marina Herlop und so fort – und immer vorwärts statt nur zurück. Selbst die Weckrufe aus dem vorigen Jahrhundert flüstern uns zu, bloß nicht auf Nummer sicher zu gehen: Iannis Xenakis, Japanese Telecom, Pauline Oliveros und Yasuaki Shimizu erinnern uns daran, dass es weitergehen muss, weil auf den Stillstand sonst vor Rückwärtsgang folgt. Irgendwer muss ja Kae Tempest’ Behauptung, dass sich alles im Kreis drehe, Lügen strafen. Notfalls auf einem Alabaster-DePlume-Beat oder dem kosmisch-spirituellen Wortschatz von Perel.

Kurzum: Das sind mal wieder nicht nur 50 Schallplatten, sondern 50 Denkzettel in allen Farben und Formen. Bitte hinter die Ohren schreiben, was durch dieselben aufgenommen wird: Eine bessere Welt ist möglich.


700 Bliss
Nothing To Declare
Hyperdub • 2022 • ab 24.99€

DJ Haram und Moor Mother mit einer echten Ansage. »Nothing To Declare« ist ganz und gar 2022. Hörer:innen ersticken fast am Zeitgeist. Die Krümel, oder besser gesagt harten Brocken, die dann bei 700 Bliss hochgewürgt werden sind Rap und supranationale Club-Musik. Hier wird alles auf einen Haufen bzw. über ebendiesen geworfen, was sich nicht bei drei zu totaler Progressivität bekannt hat. Der Vibe ist eine Mischung aus Ballroom und Straßenkampf, der sassy Bulldozer des Halbjahres. Mindestens ein Song sollte man auf der nächsten Show von Mugler erwarten.

Pippo Kuhzart
Alabaster DePlume
GOLD
International Anthem • 2022 • ab 27.99€

Arschlöcher würden über Alabaster De Plume schreiben, dass seine Musik so unangreifbar ist, dass er eigentlich die nächsten drei Bonobo-Alben (LOL, sorry, did it again!) geistproduzieren müsste. Aber ey, macht ihr doch mal ohne in irgendeiner Form angestrengt zu wirken ziemlich perfekten Weirdopop, ziemlich perfekten Jazz und ziemlich perfekte Beatskizzen. »GOLD« ist vielleicht das definitive Alabaster DePlume-Album und immer eine Spur zu seltsam und frei im Kopf um im nächsten Audi Spot zu landen.

Florian Aigner
Anadol
Felicita
Pingipung • 2022 • ab 24.99€

Für alternde Snobs gibt es kaum ein dankbareres Album als die zweite Platte von Anadol, weil die Bezugspunkte hier zeitlos sind: klassische türkische Breaks, vernebelter Krautrock, britisch-dubbiger Post-Punk, Spiritual Jazz. So weit, so safe, aber was »Felicita« komplett konkurrenzlos macht, ist eine kaum zu Papier bringende Fähigkeit, keinem Genre länger als für einen flüchtigen Moment verpflichtet zu bleiben. Eine wilde Platte, die trotzdem vollkommen in sich ruht.

Florian Aigner
Anthony Naples + DJ Python
Air Texture VIII (2022)
Air Texture • 2022 • ab 27.99€

Die Musik, das Cover, die Kuratoren: Die »Air Texture VIII« weist wie kaum eine andere Compilation in vergangenen Halbjahr in Richtung Zukunft. Satte 18 Tracks spannen eine mächtige Bandbreite von Meiteis organischem Downtempo bis hin zu DINAS Techno-Roller »Skin Shed«. Verantwortlich sind mit den New Yorkern Anthony Naples und DJ Python zwei der derzeit progressivsten Köpfe in der elektronischen Musik. Naples’ cleaner Tech-House wie Pythons Vorliebe für außerordentlich geschmackssichere Reggaeton-Einflüsse mit Hang zum Sentimalen treffen im kuratorischen Sweetspot aufeinander.

Maximilian Fritz
Azu Tiwaline & Al Wootton
Alandazu EP (2022)
Livity Sound • 2022 • ab 15.99€

Azu Tiwaline hat bei uns sowieso immer einen Gästelistenplatz für alle Jahreslisten und Al Wootton … na ja, der auch. Und dann kommt das Ding auch noch auf Livity Sound! Eh klar, dass diese im Grunde nicht überraschende Annäherung der zwei Dub-Bass-Größen ein paar Überraschungen in petto hat. Angefangen mit einer nervenaufreibenden Etüde in Suspense-Building betreten die beiden auf »Alandazu« mit Umwege über Burnt-Friedman-eske Ausbrüche in Sachen Dub-umwaberter Grooves, Abstrakto-Drum’n’Bass und freudvollem Dark Ambient (!?) gemeinsam völlig neue Gebiete.

Kristoffer Cornils
Batu
Opal
ab 20.99€

Batu ist als Timedance-Kurator und sehr selektiver Produzent längst unfrontbar. Der Schritt zum Albumformat ist im Falle von »Opal« ein dementsprechend wohlüberlegter. Mit gerade einmal einer guten halben Stunde Spielzeit bei 11 Titeln ist »Opal« schon formal kein Album für den Flur, vielmehr fließt hier Batus harsches Sounddesign in eine luzide Sequenzierung, in der dann die drum- und songorientierten Beiträge die Akzente setzen, aber das Narrativ nicht bestimmen. Bestes Objekt-Album seit dem letzten Objekt-Album.

Florian Aigner
Bill Fay
Still Some Light Part 1 (2022)
Dead Oceans • 2022 • ab 32.99€

Er hatte Orchester-Einlagen auf seinem selbstbetitelten Debüt, er hatte die Songwriting- und Pathos-Powers der Dylans und Cohens, aber Bill Fay blieb verhältnismäßig unbekannt. 1972, auf seinem zweiten Album, war dann schon nichts mehr mit Bläsern und Flöten. Auf »Time Of The Last Persecution« sah sich Jesus nah aber weit weg vom Licht, Fay sparte sich die Hälfte der Instrumente und prasste dafür nur so mit Atmosphäre. Aus dieser Zeit stammen auch die auf »Still Some Light Part 1« gesammelten Demos. Gitarren, Schlagzeug, Klavier, diese eindringliche, schwächelnde Stimme, mittelmäßige Soundquali, schlechte Aussichten – alles ganz, ganz toll.

Pippo Kuhzart
Binker And Moses
Feeding The Machine (2022)
Gearbox • 2022 • ab 31.99€

Im seit einigen Jahren üppig aufblühenden Londoner Jazz nimmt das Duo des Saxofonisten Binker Golding und des Schlagzeugers Moses Boyd eine eigene Stellung ein. Ihr reduzierter Sound bei maximaler Raumnutzung setzt die kosmischen Free-Jazz-Exkursionen des späten John Coltrane unter gelegentlicher Zuhilfenahme von elektronischer Produktion für die Gegenwart fort. Was bei ihnen mehr Harmonien und stilistische Offenheit für Rock einschließt. So auch auf »Feeding The Machine«.

Tim Caspar Boehme
Blackhaine
And Salford Falls Apart (2022)
Head II • 2022 • ab 24.99€

Der Zweimeter-Hüne schaut zwar auf jedem Foto so aus, als hätte er sich gerade mit einer Horde Hooligans im Pub geprügelt. Blackhaine bastelt aber Choreos für Kanye West und tänzelt in Videos für JPEGMAFIA wie eine Gummipuppe nach fünf Achterln Chardonnay! Außerdem haut der Mann aus Manchester selbst Beats raus, bei denen Mark E. Smith vor Ehrfurcht aus dem Grabe steigt – um den Sleaford Mods ins Gesicht zu spucken und Johnny Rotten endlich zu sagen, dass er neben Blackhaine-Blokes wie ein Kindergarten-Punk dreinschaut. Wer wissen will, wie’s im britischen Norden abgeht, ziehe sich »And Salford Falls Apart« rein!

Christoph Benkeser
Broadcast
Maida Vale Sessions
Warp • 2022 • ab 29.99€

Zusammen mit Stereolab waren Broadcast ab Mitte der Neunziger die stilbildende Band des Genres Indietronica. Gut zehn Jahre nach dem frühen Tod der Sängerin Trish Keenan wird dem bunten, inklusiven und gutgelaunten Sound mit dem Reissue dieser in den Räumlichkeiten der BBC aufgenommen »Maida Vale Sessions« ein spätes, aber hochverdientes Denkmal gesetzt. Die Band beweist mit den besten Songs ihrer frühen Werke, dass ihre detailverliebten Studioaufnahmen auch im Live-Setting wunderbar funktionieren – und auch, dass nicht nur die Musikwelt vor 20 Jahren eine sehr viel optimistischere war.

Martin Silbermann
Burial
Antidawn
Hyperdub • 2022 • ab 22.99€

Ach und komm: ja, Burial macht viel bessere, weil tief unter der Oberfläche brodelnde Musik, aber sich hinzustellen und mal wieder eine neue Burial als emotionale Großtat zu feiern (und gleichzeitig auf Bonobo einzuprügeln), fühlt sich auch nicht richtig an. Also an dieser Stelle nur die übliche PSA: die neuen vierzig Minuten sind natürlich nicht so gut wie die ersten beiden Alben, aber machen trotzdem, wie immer, etwas mit einem. »Antidawn« ist Burials Ambientplatte, Drum-Programming lässt sich höchstens erahnen und ja, mich hat das abgeholt.

Florian Aigner
Civilistjävel!
Järnnätter (2022)
Felt • 2022 • ab 22.99€

Der Skandinavier*innen Gespür für Schnee. In diesem Fall sind's Schweden aus Uppsala. Die machen auf »Järnätter« mittels Synthesizers atmosphärischen, melodischen Ambient. Brian Eno hätte die Platte wahrscheinlich »Music for Mushrooms, Lichens & Mosses« genannt. Mit schwerem Gerät machen Civilistjävel! hier leicht Musik. Jeder der sich mit dicken Fausthandschuhen versucht hat, die Schnürsenkel zuzubinden, sollte die Finesse hinter dieser Ansammlung von Tracks ahnen. Es ist zudem das erste Release auf dem von Perko neu gegründetem Label FELT.

Sebastian Hinz
Dali Muru & the Polyphonic Swarm
Dali Muru & the Polyphonic Swarm
STROOM〰 • 2022 • ab 23.99€

Dalia Neis und Enir Da haben als Fith angefangen, hören nun aber für ihr Album auf STROOM〰 auf den Namen Dali Muru & the Polyphonic Swarm. Arg viel hat sich nicht geändert: Das ist immer noch Peak-SDA-Weirdo-Pop in Moll, auf dem Dalia Neis Vocals in ihrer distanzierten Coolness durch reduzierte, Tolouse Low Trax inspirierte Beats und krautige Kautzigkeiten geistern, in bester Avant-Wave-Tradition. Die Formel mag mittlerweile bekannt sein, aber ein Spitzenalbum ist das trotzdem.

Florian Aigner
Debit
The Long Count (2022)
Modern Love • 2022 • ab 27.99€

Das neue Debit-Album »The Long Count« ist vorsichtig selbstbewusst, nicht eine Spur zu viel lenkt hier von der Essenz ab, ein komplett abstrahiertes Arrangement teilweise selbstgebauter traditioneller Blasinstrumente der Maya-Kultur, ein unpenetrierbarer multitonaler Trip durch Sounds und vor allem Stimmungen, die gleichzeitig nach 3000 vor und nach Christus klingen.

Florian Aigner
DJ Python
Club Sentimientos Vol. 2 (2022)
ab 12.99€

Digitale Spiegelkabinette. Auf der jüngsten EP »Club Sentimientos Vol. 2« des New Yorker Produzenten Brian Piñeyro alias DJ Python geht es vordergründig spartanisch und fast träge zu. Das allerdings mit reichlich halbverborgener Dynamik und sorgsam gehobelten Klängen, deren flüssige Künstlichkeit und polierte Oberflächlichkeit paradoxerweise für ausgeschlafene Ruhe und Tiefe sorgen. Besonders das zehnminütige »Angel« mit verlangsamtem Deep House bietet sich zum Eintauchen an. Für seinen Slo-Mo-Reggaeton gilt das ebenso.

Tim Caspar Boehme
Earthen Sea
Ghost Poems (2022)
Kranky • 2022 • ab 25.99€

Schicht über Schicht schiebt Jacob Long auf »Ghost Poems« übereinander, drückt behutsame, doch bauchige Kicks in fein texturierte Flächen, samplet Alltagsgegenstände, verfremdet ihre Klänge und produziert damit eine Schönheit, die schon früh im Jahr nachhaltig aufhorchen lässt. Earthen Sea exerziert die Kranky-Formel ziemlich perfekt durch, bleibt konsequent in ruhigen Gefilden und überrollt in betont sanfter Manier mit schwerfälligen Dub-Walzen und wabernden Akkorden, die unweigerlich zur Kontemplation zwingen.

Maximilian Fritz
Eiko Ishibashi
For Mccoy
ab 23.99€

Ebenfalls eine vielgehörte Platte der letzten Wochen: Eiko Ishibashis »For McCoy«, deren Referenzrahmen maximal random daher kommt (Law & Order, hä?), aber mit Ausnahme des abschließenden und doch arg käsigen dritten Stücks zwei ausufernde Ambient Jazz Skulpturen schnitzt, die sich vor den großen Reissue-Grails auf Black Sweat oder Soave überhaupt nicht verstecken müssen.

Florian Aigner
Fhunyue Gao & Sven Kacirek
Hoya
Altin Village & Mine • 2022 • ab 20.99€

Es gibt Musik, die klingt besonders, und es gibt Musik, die klingt wie nichts zuvor. »Hoya« fällt natürlich in die zweite Kategorie, denn was könnten eine Thereminspielerin mit Theater-Background und ein in transkultureller Abstraktionsarbeit geschulter Drummer schon machen, was sich in irgendeinen fixen Referenzrahmen quetschen ließe? Na, eben, nichts. Fhunyue Gao und Sven Kacirek schrammen hier mal an Minimal Music, fiebrigem (Free) Jazz, humoreskem Noise und dumpfen Dub vorbei, eröffnen aber in erster Linie ihr ganz eigenes musikalisches Koordinatensystem. Bitte eintreten und davor nicht vergessen, alles Vorwissen an der Garderobe abzugeben.

Kristoffer Cornils
Fixate
Fixate (2022)
Exit • 2022 • ab 28.99€

Drum’n’Bass war natürlich nie weg und feiert dementsprechend auch nicht unbedingt ein Comeback. Vielmehr machen sich seit einiger Zeit auch jenseits von Djrum und dBridge ein Haufen Artists daran, dem vertrauten Sound ein neues Gewand anzulegen. Selten klang das aufreibender als auf dem selbstbetitelten Debütalbum von Fixate auf der Genre-Institution Exit. Rap-Einlagen, wilde Polyrhythmen, Schellen austeilende Tech-Step-Anleihen - alles dabei. Und zwar schon im ersten Viertel dieses Albums, das dann nochmal ganz andere Pfade einschlägt. Drum’n’Bass war nie weg, es wurde nur mal eben kurz neu erfunden. Danke dafür.

Kristoffer Cornils
Huerco S
Plonk
Incienso • 2022 • ab 32.99€

Ich finde »Plonk« ist der deskriptivste Plattentitel seit Bleep Techno gecoint wurde. Die meisten der vielen, sehr vielen Huerco S Sideprojects waahuhbrrrrmmmten eher, »Plonk« plonkt aber direkt in der ersten Hälfte und kreiiert mal eben nebenbei die Weightless Version von Drill. Danach wird's etwas sphärischer und absehbarer, aber bei diesem dubbigen Ambient-Zeug macht Huerco S ja trotzdem keiner was vor. Wenn jetzt noch jemand anmerkt, dass zumindest der Closer auch auf dem Bonobo-Album hätte sein können, dürfte ich final als Heuchler enttarnt sein.

Florian Aigner
Hydroplane
Hydroplane
Efficient Space • 1997 • ab 21.99€

Hydroplane war eine Band aus Australien. In den 1990er-Jahren lötete sie den Broadcast zwischen Dream Pop und Experimental-Geshizzle aus, den der Radiophonic Workshop der BBC in der Babyboomer-Generation aus den Transistoren spulte. »Hydroplane«, das Debüt von 1997, landete bei John Peel, der hievte das Ding kurzzeitig in die Charts. Danach verstaubte die Platte in den Läden – bis es, der Neuauflage bei Efficient Space sei Dank, erstmals in die NTS-Rotation kurvte. Ein All-time-Classic!

Christoph Benkeser
Iannis Xenakis
Electroacoustic Works
Karlrecords • 2022 • ab 129.99€

Iannis Xenakis wäre dieses Jahr 100 alt geworden und natürlich muss das irgendwie gefeiert werden, auch wenn viele Veranstaltungen um das Werk des Komponisten der Mief von Musealisierung umweht. Mit dem umfassenden Box-Set »Electroacoustic Works« beweist das Berliner Label Karlrecords allerdings, wie wunderbar sperrig dessen Schaffen weiterhin bleibt. Klar, insbesondere das Frühwerk inklusive der Granularsynthesen-Origin-Story von Concrète PH mögen mittlerweile zum Kanon gehören. Das Spätwerk aber tut in Hörgang und Hirn noch ordentlich weh und Stücke wie »S.709« lassen den Merzbow-Katalog im Vergleich wie Wiegenlieder klingen. Muss auch erstmal jemand schaffen, konnte aber vermutlich nur Xenakis.

Kristoffer Cornils
Imed Alibi
Frigya Feat. Khalil Epi (2022)
ab 19.99€

Here we go: Die Zukunft des Techno liegt in Afrika. Wissen wir ja spätestens seit Hakuna Kulala Records, Nyege Nyege Tapes sowie den Arabstazy Compilations. Aber »Frigya« (Shouka) ist besonders! Percussionist Imed Alibi und Produzent Khalil Epi explorieren über acht Tracks die tunesische Rhythmus- und Klangwelt und transferieren die Traditionen in ein farbenfrohes, Bass wummerndes Feuerwerk der Polyrhythmik und nordafrikanischen Melodien, das jeden Club weltweit zerlegen und in komplette Euphorie tauchen dürfte.

Jens Pacholsky
Işık Kural
In February (2022)
ab 26.99€

13 ganz zerbrechliche Vignetten hat Isik Işık Kural für »In February« aufgenommen. Die gläsernen Dream-Pop-Ambient-Schlafkammer-Instrumentals passen haargenau in die Discography von RVNG Intl., Kate NV, Visible Cloaks und so sind gute Orientierungspunkte. Darüber Işık Kurals hauchzarte Stimme, die ein bisschen so klingt als hätte Devendra Banhart den Ego-Death vollzogen und nach der Transzendenz erstmal einen Schwächeanfall erlitten. Ein echtes Leuchtkäferchen das Album, Spieluhr-Musik für Ausgewachsene.

Pippo Kuhzart
Jake Xerxes Fussell
Good and Green Again
Paradise Of Bachelors • 2022 • ab 26.99€

In unserem LOL-Zeitalter, in dem es nichts mehr wirklich zu lachen gibt, das perfekte Album: Aufrichtig sad und in sich gekehrt spielte sich Jake Xerxes Fussell an genau die Stelle, wo die Brust über dem Bierglas schwebt. Emo-Musik aus dem ruralen US-amerikanischen Raum, oder auch Country-Folk, fürs in die Ferne schweifen bei enger, aber gut durchspülter Kehle. Jake Xerxes Fussell traut sich auf »Good And Green Again« die echten, unverklärten Emotionen zu und macht sie eindrücklich nachfühlbar, nur mit Stimme und Gitarre. »We all marchin’ around very well« ist wahrscheinlich die gegenwärtigste Zeile des 2022 so far, natürlich ausschließlich erreicht durch die Art und Weise, wie Fussell sie hier vorträgt.

Pippo Kuhzart
Japanese Telecom
Virtual Geisha (2001)
Clone Aqualung Series • 2001 • ab 28.99€

Im Rahmen der Clone Aqualung Series ist Anfang des Jahres mit »Virtual Geisha« ein weiteres Release von Gerald Donald erschienen, das er 2001 unter dem Alias Japanese Telecom veröffentlichte. Und klar hat das weder die mythische Tiefe von Drexciya, noch die technische Finesse von Dopplereffekt, sondern ist schlicht fantastisch groovender Electro. Teilweise garniert mit der Unbefangenheit von japanischer Synthesizermusik Anfang der 1980er Jahre. Musik, die mir einfach ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Und auch genau das will.

Sebastian Hinz
Jeanne Lee
Conspiracy (1975)
ab 32.99€

Über Jeanne Lee sollten, nein, müssten noch ein bis zwei Bücher geschrieben werden, aber dieses Reissue ihres seit den 1970er-Jahren vergriffenen Solo-Debüts (mehr als solider Discogs-Median, eh klar) markiert schätzungsweise den Anfang einer umfassenden Neubeschäftigung mit dem Werk der Lyrikerin, Sängerin, Choreografin und Komponistin, die mit Anthony Braxton genauso zusammengearbeitet hat wie mit John Cage oder Pauline Oliveros. Klingt nach viel? »Conspiracy« auch. Nach Spiritual Jazz genauso wie nach verqualmten Poetry Slam in einer New Yorker dive bar, nach Avantgarde und Seelenheil. Nach der besten Platte also, die du noch nie gehört hast. Puh.

Kristoffer Cornils
Jeremiah Chiu & Marta Sofia Honer
Recordings from The Åland Islands (2022)
International Anthem • 2022 • ab 26.99€

Ein Release, der auf den ersten Blick nicht von International Anthem erwartbar war. Das Chicagoer Label war in den letzten Jahren nicht unbeteiligt, Jazz zu entstauben. Auf »Recordings from the Åland Islands« ist Jazz fast verschwunden, nur als Echo einer fernen Vergangenheit erahnbar, als Klavierakkorde auf »Stureby House Piano«, als Coltrane'sche Trompete in »On The Other Sea«. Als würde Jazz als Windzug über Ozeane hinweg zu den finnischen Åland Inseln wehen, auf denen Jeremiah Chiu und Marta Sofia Honer mit ihren Gerätschaften stehen und ihn einfangen. Er ist nun nicht mehr derselbe, verwandelt, hat nichts mehr von seinem Ursprung, außer seine auratische Magie.

Sebastian Hinz
Jörg Thomasius
Acht Gesänge Der Schwarzen Hunde
Bureau B • 2022 • ab 27.99€

Die Aufarbeitung der sogenannten Kassettentäter-Szene aus dem letzten DDR-Jahrzehnt ist wohl noch lange nicht abgeschlossen und hat doch schon eine Fülle wunderbarer, wundersamer Musik wieder ans Tageslicht befördert. Jörg Thomasius trat ab Mitte der 1980er-Jahre mit einer Reihe von Tapes in Erscheinung, die meist in Kollaboration mit anderen Artists entstanden. »Acht Gesänge Der Schwarzen Hunde« allerdings versammelt Solo-Produktionen, die zwischen den Jahre 1980 und 1990 entstanden sind und gleichermaßen Bekanntes anzitieren zu scheinen, wie sie sich idiosynkratisch davon abgrenzen: Dub, Wave, Noise, Industrial, Musique concrète, New Age und noch andere Strömungen erfand Jörg Thomasius unter seinen eigenen Bedingungen kurzerhand selbst.

Kristoffer Cornils
Kae Tempest
The Line is a Curve (2022)
Virgin • 2022 • ab 26.99€

Nach dem Outing als nonbinäre Person kehrt Kae Tempest drei Jahre nach dem Kritikerliebling »The Book of Traps and Lessons« mit einem fünften Album zurück. Wieder gemeinsam mit Dan Carey und Rick Rubin entstanden geht es nun deutlich musikalischer und lebensbejahender zu Werke. Dezente Produktionen mit Elementen aus Electronica, Hip-Hop und Indie verschmelzen mit Kae Tempests Spoken-Word-Poesie zu einem fesselnden Meisterwerk. Der Albumtitel »The Line Is A Curve« steht für die ewige, wiederkehrende Suche im Leben und so endet die Platte mit der selben Melodie, wie sie begann.

Benjamin Mächler
Kahil El'zabar Quartet
A Time For Healing (2022)
Spiritmuse • 2022 • ab 51.99€

Schön wär’s, kann man sich da nur denken. Nicht nur, wenn man diesen Titel, »A Time For Healing« liest, sondern auch, wenn man diese Musik hört, oder noch besser: Das Quartett spielen sieht. Kahil El’ Zabar ist fast 70, aber wie er da vorne sitzt und musiziert mit Stimme und Instrument, da lässt sich das alles reinprojizieren, was sonst so verloren scheint: Wahrhaftige Kreativität – als Gegenpol zur Lifestyle-Kreativität, Eigenständigkeit – als Gegenpol zur gleichgeschalteten Individualität –, und Lust und Hoffnung und Verbundenheit. Als Gegenpol zum Rest. Große Musik, überzeitliche Musik, die ihr Dasein jenseits der Dinge gefunden hat, ziemlich sicher viben die Einzeller zu diesem Jazz.

Pippo Kuhzart
Kendrick Lamar
Mr. Morale & The Big Steppers
Interscope • 2022 • ab 42.99€

Kendrick Lamar rappt mit variablen Flows und komplexem Storytelling weiterhin auf Pulitzer-Niveau. Das spiegelbildliche Konzept des Doppelalbums geht auf, weil er nach dem dunklen »DAMN.« hier nicht nur seine Traumata offenlegt, sondern diese positiv bearbeitet, nun scheinbar zur Selbstliebe fähig. Obwohl nicht alles Volltreffer sind, überzeugt »Mr. Morale & The Big Steppers« durch einige der besten Beats seiner Karriere und überraschende Featurgäste wie etwa Beth Gibbons. Seinen Messias-Komplex scheint Lamar trotz Dornenkrone auf dem Cover abgelegt zu haben.

Martin Silbermann
Kurt Vile
(watch my moves)
ab 27.89€

Nach so viel hochtrabendem Scheiß noch die volle dadcore Gemütlichkeit. Das neue Kurt Vile-Album hört auf den Namen »(watch my moves)«, enthällt wie immer unprätentiösestes Songwriting und Kurt Vile wirkt - wie bereits von P4K beobachtet - in seiner aktuellen Lou Reed’schen Schnoddrigkeit einfach wie die Dalai-Lama-Version von Bruce Springsteen. Keine Ahnung wie man so vollkommen bei sich ankommen kann, aber wenn ich groß bin, werde ich Kurt Vile.

Florian Aigner
Marina Herlop
Pripyat
PAN • 2022 •

Das Album mit der 3D-Schneckenkönigin auf dem Cover. Es täuscht nicht. Marina Herlop macht auf »Pripyat« artifiziellen Art-Pop auf dem Fundament einer klassischen Klavier-Ausbildung. Das Resultat klingt wie eine Mischung aus Jenny Hval, Kate Bush und SOPHIE, der nächste Pitchfork-Redakteur sprießt quasi zum ersten Anschlag dieses Albums aus dem Boden. Und die Spannung ist auch einfach sehr, sehr gut gelungen, die aus dem Nebeneinander von Arca-esquer glitch-y Club-Musik und pittoresker Dramaturgie in den klassischeren Elementen (Stimme und Klavier) entsteht.

Pippo Kuhzart
Merrin Karras
Silent Planet
ab 24.99€

An der überkochten Suppe des Ambient-Topfes versuchen sich ja seit einigen Jahren alle, denen man nicht früh genug den Reverb deinstalliert hat – vom ausgewachsenen Technohead über den 08/15-Rockdude bis zum gefeierten Soulprojekt. In der Regel endet das mit fadem Mittelmaß oder übersalzenem Kitsch auf ganzer Breite. Merrin Karras gehört zu den wenigen, die selbst mit üppigen Synthflächen für die Endlosigkeit ganze Welten schaffen, die nicht nach eingeweichten Brötchen von gestern schmecken. Selbst wenn er – wie auf »Silent Planet« – nur kurz hineintaucht, um im nächsten Atemzug schon wieder davon zu jagen.

Jens Pacholsky
Michel Banabila
Echo Transformations (2021)
Knekelhuis • 2022 • ab 25.99€

Ein tatsächlich neues Album des niederländischen Großmeisters Michel Banabila, der im Zuge der Wiederentdeckung von Fourth-World-Mucke irgendwann zur Mitte der 2010er hin zu neuem Ruhm gelang. Auch »Echo Transformations« ist für alle, die immer noch ihren John Hassell lieben, Andrew Pekler, Steve Reich. Marimbas und ferne Vögel lassen Hörer*innen gleich wissen, wo sie sind. Aber deshalb steht das Album nicht hier. Sondern, weil es MIchel Banabila gelingt, diese vielgenutzten Ethno-Tropen in treibende Grooves zu übersetzen, seinem Sound eine Dringlichkeit zu verleihen, die nichts mehr der Austauschbarkeit so einiger Exoten-Ambient-Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre zu tun hat.

Pippo Kuhzart
Nalan
I'm Good. The Crying Tape (2022)
ab 19.99€

Der Vergleich zu Erika de Casier oder PinkPantheress mag sich angesichts von Tracks wie »Falling 4 U« aufdrängen, aber das Debütalbum von Nalan nimmt dann doch noch ganz andere Abzweigungen als deren D’n’B’n’R’n’B-Sound es gemeinhin tut. Die auch als slimgirl fat und Mitglied der Gaddafi Girls bekannte Sängerin und MC nimmt sich auf »I'm Good (The Crying Tape)« eine Vielzahl verschiedener Beats zur Grundlage, um stimmlich zwischen softem Crooning, siruphaftem Sleaze und Freestyle-House-Hymnen-Throwbacks zu jedem Topf den passenden Deckel zu finden und aus dem Ganzen eine in sich geschlossene Sache zu machen. Hätte doch nur jemand Drake und Beyoncé diese Platte im Grenzbereich zwischen Hip-Hop-Beats und Club-Zugeständnissen zugesteckt, es wäre uns einiges erspart geblieben.

Kristoffer Cornils
OG Keemo
Mann Beisst Hund (2022)
ab 28.99€

Das Jahr war keine vier Wochen alt und schon war die Messe in Sachen Deutschrap für 2022 gelesen. Dass OG Keemo mit »Mann Beißt Hund« das narrativ konkurrenzloseste Deutschrap-Album der Geschichte machen würde, ließ sich nach den wenigen vorab veröffentlichten Tracks bereits prophezeien, die Selbstverständlichkeit aber mit der Keemo hier mindestens drei Perspektiven zu einem Block-Prisma zusammenkittet, in dem es weder verlässliche Erzähler noch sozialpädagogische Well-Actually-s gibt, ist so aber auch international beinahe einzigartig. Natürlich muss an dieser Stelle irgendwo der abgelehnte Kendrick-Vergleich kommen, aber allein mit welcher - Vorsicht, Klischee - cineastischen Detailverliebtheit Keemo schon auf dem Opener jeden Quadratzentimeter seines Viertels vermisst, kennt man so eigentlich auch nur von Alben der Größenordnung »Illmatic« oder »The Infamous«. Und das sind nur die ersten drei Minuten. Schluck.

Florian Aigner
Orchestre Massako
Orchestre Massako (2022)
ab 36.99€

Hach, nimm’ mich zu dir, kongolesischer Rumba. Dieser Sound verdient eine eigene Religion und Franco (TPOK Jazz etc.) ist sein Prophet. Einer seiner Schüler war ein gewisser Jean-Christian Mboumba Mackaya aka Mack-Joss, der Bandleader des Orchestre Massako, in den 1970er-Jahren Nationalorchester des Gabun. Analog Africa hat auf »Orchestre Massako« vier ausufernde und erhebende Songs dieses Orchesters zusammengestellt. Für diesen Redakteur der beste Afrika-Release des Halbjahres.

Pippo Kuhzart
Pape Nziengui Et Son Groupe
Kadi Yombo
Awesome Tapes From Africa • 1989 • ab 30.99€

Derweil sie oberhalb des Äquators noch damit beschäftigt waren, sich auf paternalistische (Fourth-)World-Music-Ansätze einen runterzuholen, waren Leute wie Papé Nziengui aus Gabon schon weiter. Auf »Kadi Yombo« brachte er traditionelle Tsogho-Musik mit Synthies und kreischenden E-Gitarrensoli zusammen. Was im Jahr 1989 auf alle erdenklichen Ebenen far out war und im direkten Umfeld stellenweise als ikonoklastisch gewertet wurde, lässt im Rückblick Vergleiche zum Madchester-Sound genauso zu, wie es die Patenschaft für die viel später in Mali produzierte Musik eines Luka Productions zu übernehmen scheint. Visionäre Musik, die das New Age auf dem Dancefloor anbrechen lässt.

Kristoffer Cornils
Park Jiha
The Gleam (2022)
Glitterbeat • 2022 • ab 23.99€

Park Jiha macht Musik, die schwer zu beschreiben und leicht zu verstehen ist. Die Hard Facts: Mit Instrumenten aus der traditionellen höfischen Musik Koreas wie Piri (eine Flöte), Yanggeum (eine Art Zither) und Saenghwang (eine imposante, auf dem Cover abgebildete Blockflöte) sowie Glockenspiel baut Park Jiha auf »The Gleam« im Alleingang komplexe Kompositionen mit der klanglichen Qualität einer Synthese aus digitaler Produktionsprozesse und Fourth-World-Ästhetiken und den musikalisch-rhythmischen Parametern von Minimal Music, Jazz und Post-Rock. Immer nach Gefühl, immer mitten ins Herz. Einmalig, in jeder Hinsicht.

Kristoffer Cornils
Pauline Oliveros
Accordion & Voice (1982)
ab 31.99€

Die Deep-Listening-Pionierin Pauline Oliveros wäre heuer 90 Jahre alt geworden und natürlich wird das mit einer Reihe von Reissues gefeiert. Neben einer bisher unveröffentlichten Kollaboration mit den Avant-Trickstern von Reynols auf Smalltown Supersound leistet vor allem ihre Labelheimat in späteren Jahren, Important, beste Arbeit: Neben einer Neuauflage der 11CD-Box (!) »Reverberations« aus ihrer frühen Schaffensphase erscheinen dort auch endlich Vinyl-Reissues von »The Wanderer« und »Accordion and Voice«. Letztgenanntes markierte einen Umbruch in Oliveros’ Schaffen, die auf zwei langen Stücken mit den beiden im Titel genannten Mitteln eine neue musikalische Poetologie formulierte: Impro, Drone, Klang im Fluss.

Kristoffer Cornils
Perel
Jesus Was An Alien (2022)
ab 27.99€

Ui, der Titel, dazu das Cover: Perel als Cyber-Maria lactans mit Alien-Baby. So einschlagend, wie einst Provokationen waren, können es jetzt wohl nur humorvolle Reflektionen des Umstands sein, dass es kaum mehr Provokationen gibt. In diesem Fall lässt sich das als Gesamtkonzept auch der Musik verstehen. Und das ist gelungen: Mit dem spacigen, Techhouse-grundierten Synth-Pop auf »Jesus Was An Alien« hat sich die DJ, Produzentin und reichlich betörende Vokalistin hierzulande in sämtliche Herzen gebeamt.

Jana-Maria Mayer
Rosa Anschütz
Goldener Strom (2022)
BPitch • 2022 • ab 25.99€

Ihre klare und entschlossene New-Wave-Stimme fügt sich dem voranpreschenden 4-to-the-Floor-Beat, welcher in bebenden Körpern mündet. »Goldener Strom« heißt das zweite Album der 24-jährigen Musikerin Rosa Anschütz, die sowohl Wien als auch Berlin ihre aktuelle Heimat nennen darf. Große Aufmerksamkeit für ihre Musik erhielt Anschütz vor allem durch das Berliner Atonal Festival und die vom einstigen Berghain-Residenten, Kobosil, geremixte Version ihres Songs »Rigid«. Ein Album, dem es gelingt, durch den ständigen Kampf zwischen Melancholie, Edginess und wummernden Bässen, ein Wechselbad der Gefühle auszulösen.

Franziska Nistler
Shinichi Atobe
Love Of Plastic (2022)
ab 30.99€

Zumal sich mit der neuen Shinichi Atobe Platte erwartungsgemäß alles wieder schnell glätten lässt. »Love Of Plastic« ist in einer perfekt durchgestylten Diskografie eine der spröderen Platten, aber nach wie vor gibt es kaum jemanden, der so selbstverständlich House und Techno in seiner natürlichen Eleganz erfasst wie der Japaner. Bemerkenswert wie durch einen reduzierten, aber emotiven Zugang jedes Mal vollkommen zeitlose Musik entsteht.

Florian Aigner
Širom
The Liquified Throne Of Simplicity
tak:til • 2022 • ab 35.99€

Mystifizierter Folk mit Fourth-World-Anleihen aus Slowenien, »The Liquified Throne Of Simplicity« von Širom dürfte dieses Jahr noch an einigen Bilanz ziehenden Stellen auftauchen. Hier wird, neben unzähligen anderen Instrumenten, tatsächlich auch die Lyra gezupft. Dem mittelalterlich verklärten stehen zum Glück die fiebrigen Stammestrommeln gegenüber, so dass man nie so richtig weiß, ob das jetzt heikel LARP-y oder allumfassend geil ist. Ur-eigen jedenfalls ist es und das ist ja schon per se ganz schön was.

Pippo Kuhzart
Tia Blake & Her Folk Group
Folksongs & Ballads
Ici Bientôt • 1971 • ab 24.99€

Das die Art von Reissue, die nur alle handvolle Jahre mal erscheint. Ein verloren-geglaubtes Album, gejagt by many, für viele Jahre, das jetzt tatsächlich neu aufgelegt wurde. Tia Blake nahm »Folksongs & Ballads« Ende der Sechziger an nur einem Tag auf und es besteht nur aus Covern. Sie trägt sie mit gezupfter Gitarre und einer Stimme vor, die hell und präsent und gleichzeitig schüchtern und entrückt ist. Bis heute versuchen Bands, diesen Vibe zu finden, den wenigsten gelingt es. »Folksongs & Ballads« ist genau so groß wie die größten Folk-Reissues der letzten 20 Jahre, das Jackson C. Frank-Debüt, oder »Painting A Lady«; Sibylle Baier, Anne Briggs.

Pippo Kuhzart
Treasury Of Puppies
Mitt Stora Nu
Discreet Music • 2022 • ab 21.99€

Auch wieder zwingendes gibt es aus Göteborg, natürlich aus dem Umfeld von Förlag For Fri Musik. »Mitt Stora Nu« ist das zweite Album von Treasury Of Puppies, ein selbstbewusster Schritt weg von der murmelnden Introvertiertheit des Debüts, Rotz n Roll Hit inklusive. Dazwischen Lo Fi Folk, eiskalte Synths und skandinavischer Existentialismus.

Florian Aigner
Tsvi & Loraine James
053 (2022)
AD93 • 2022 • ab 15.99€

Wie auch immer die beiden zueinander gefunden haben – Britain-based Producer TSVI und London-native Loraine James linken auf »053« ihre Laptops für einen Fünf-Track-Ride auf AD93. Das Piano klimpert über Grime-Beats, die Pads träumen sich ins Li-La-Launeland und schmeißen spätestens mit »Trust« mit prallgefüllten Tränensäcken um sich! Dazwischen stockt man den Ritalin-Haushalt auf. Prophylaktisch, eh klar – schließlich crashen hier Jungle-Chops auf Engels-Locken. Da bleibt nicht mal der Plattentitel gerade!

Christoph Benkeser
Yasuaki Shimizu
Kiren (2022)
ab 29.99€

Der kompositorische Allesverwerter Yasuaki Shimizu hat ein beachtliches Gespür dafür, wie man Drolligkeit all ihrer negativen Konnotationen beraubt. Davon zeugt seine Arbeit mit der Band Mariah, aber noch mehr dieser bisher unveröffentlichte (!) Glücksfall aus dem Jahr 1984. Shimizus Saxophon mäandert und knarzt, mitreißende Repetitionen münden plötzlich ins Fadeout, ein paar quietschende Synthspritzer, irgendwas Froschartiges, dann rein ins EBM-ig krachende »Shiasate«. »Kiren« geriert sich so selbst- und unverständlich wie ein eigener Organismus.

Jana-Maria Mayer

Vinyl-Halbjahresrückblick 2022

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