Records Revisited: Eric Dolphy – Out to Lunch! (1964)

13.08.2024
Kurz vor seinem tragischen Tod nahm der Multiinstrumentalist sein einziges Album für Blue Note auf. Es ist ein Meisterwerk des Avantgarde-Jazz.

Den größten Triumph seiner kurzen Karriere erlebt Eric Dolphy nicht mehr. Als im August 1964 das Album »Out To Lunch!« erscheint, sein erstes und einziges als Leader beim Label Blue Note, ist der Multiinstrumentalist bereits zwei Monate tot. Dolphy hält sich im Juni 1964 in Berlin auf, um mit dem Karl Berger Trio ein Konzert zur Wiedereröffnung des Jazzclubs Tangente zu geben. Während des Auftritts bricht er zusammen, wird ins Krankenhaus gebracht und stirbt zwei Tage später überraschend im Alter von 36 Jahren an nicht diagnostzierter Diabetes.

Eric Dolphy hat sich in wenigen Jahren einen Namen gemacht als Sideman für Musiker:innen wie Charles Mingus, Ron Carter, Max Roach und Abbey Lincoln, vor allem aber hat er intensiv mit seinem Freund John Coltrane zusammengespielt. Mit seinem Spiel auf Altsaxophon, Bassklarinette und Flöte verlieh Dolphy den Alben, auf denen er als Begleiter zu hören war, einen mystifizierten, exotischen Charakter und entwickelte dabei eine musikalische Freiheit, die sich nicht durch das sture Ignorieren aller Grenzen, sondern durch bewusste Grenzüberschreitungen definierte. Seit 1960 hat Dolphy auch eine Reihe von Alben als Leader veröffentlicht – »Out There« (1961), »Conversations« (1963) -, aber keines von ihnen erreicht die Qualität und Intensität seines Meisterwerks »Out To Lunch!«.

Alle Musiker sind Bandleader

Mit dem Multiinstrumentalisten steht am 25. Februar 1964 eine erstklassige Band im Van Gelder Studio in New Jersey: Freddie Hubbard (Trompete), Bobby Hutcherson (Vibraphon), Richard Davis (Bass) und der gerade mal 18-jährige Tony Williams am Schlagzeug, dem eine große Karriere bevorsteht. Dass Dolphy auf einen Pianisten in seiner Rhythmusgruppe verzichtet und stattdessen auf Bobby Hutcherson mit seinem Vibraphon setzt, ist nur ein Alleinstellungsmerkmal dieses Albums. Hutcherson fungiert als Schnittstelle zwischen den Akteuren, sein perkussives Spiel ist Dreh- und Angelpunkt der Kommunikation zwischen den Musikern. Er kommentiert die Beiträge seiner Mitmusiker mit dem Vibraphon, setzt hier einen Akzent, »beantwortet« dort eine Melodie. Und das ist ganz im Sinne von Dolphy, der alle Musiker auf dem Album zu Bandleadern erklärt.

Die fünf Kompositionen sind gleichzeitig melodisch und dissonant, sie schwören der Tradition nicht ganz ab, aber trauen der Gegenwart des Jazz auch nicht hundertprozentig.

Die musikalische Freiheit sucht Eric Dolphy weniger im Atonalen als vielmehr in ungewöhnlichen, komplexen Rhythmen und Taktarten und im Zusammenspiel der Musiker. Die fünf Kompositionen sind gleichzeitig melodisch und dissonant, sie schwören der Tradition nicht ganz ab, aber trauen der Gegenwart des Jazz auch nicht hundertprozentig. Genau das macht das Album so besonders, weil Eric Dolphy sich auf »Out To Lunch!« in einem Niemandsland zwischen Post Bop und Free Jazz bewegt und dabei einen neuen Weg für den Avantgarde Jazz findet.

Vom Saxofon zur Flöte zur Klarinette

Wahrhaft magische Momente entstehen, wenn er vom Altsaxofon zur Flöte oder zur Bassklarinette wechselt. »Something Sweet, Something Tender« ist ein subtiles Duett von Bassklarinette und Bass, in »Gazzelloni« schlägt er die aberwitzigsten Kapriolen auf der Flöte. Das Stück ist nach dem italienischen klassischen Flötisten Severino Gazzelloni benannt, Dolphys ehemaligen Flötenlehrer. Und der Titeltrack ist am nächsten dran an dem, was man damals unter Free Jazz versteht. Das zwölfminütige »Out To Lunch!« lässt Raum für Soli und subtile Interaktionen, die die Chemie der beteiligten Musiker zur Schau stellen. Dolphys Spiel auf dem Altsaxofon klingt, als wäre er einer Militärband entsprungen.

Obwohl es zu der Zeit, als das Album veröffentlicht wird, wesentlich grellere musikalische Experimente gegeben hat, etwa Ornette Colemans »Free Jazz«, an dem Dolphy und Hubbard selbst mitwirkten, stößt »Out To Lunch!« bei Jazz-Puristen auf Ablehnung. Dolphy scheint die Reaktionen in den Liner Notes des Albums zu antizipieren. »Ich bin auf dem Weg nach Europa, um dort eine Zeit lang zu leben. Warum? Weil ich dort mit meiner eigenen Musik mehr Arbeit bekomme und weil die Leute einen dafür runtermachen, wenn man in diesem Land versucht, etwas anders zu machen«, schreibt er. 60 Jahre später sind wir schlauer und würdigen »Out To Lunch!« als das, was es ist: ein Meisterwerk des Avantgarde Jazz.