Records Revisited – Moondog’s Moondog, 1969

04.03.2015
Moondog ist nicht nur einer der wichtigsten und zugleich unbekanntesten Begründer der Minimal Music. Er zeigte auch, dass Avantgarde von der Straße kommt und nicht von der Universität.

Es ist schon verrückt, dass alle Philip Glass für seinen eigenwilligen, repetitiven Symphoniestil feiern und eigentlich ein gewisser Louis Thomas Hardin 1969 die Blaupause lieferte. Genauso verrückt ist es, dass nicht nur eine Menge anderer Minimal Music-Protagonisten wie John Zorn und Steve Reich diesen Louis Thomas Hardin als Einfluss nennen oder bewundern, sondern selbst ein Jeff Bridges sich an die skurrile Figur erinnern kann. Den Vogel schießt jedoch der Umstand ab, dass dieser Mann über 30 Jahre als Straßenmusiker und Straßenpoet verbrachte: zuerst in der Metropole New York City, dann im beschaulichen (deutschen) Oer-Erkenschwick. Ach, und habe ich schon erwähnt, dass dieser Louis Thomas Hardin blind war, seine Werke direkt in Braille niederschrieb und Jahrzehnte lang als Wikinger aus der »Edda« durch die Straßen lief? Und ihr denkt noch, Lady Gaga ist schräg.

Der Wikinger der 6th Avenue
Louis Thomas Hardin ist der Gegenentwurf zu jeglicher bildungsbürgerlichen Idee von ernster Musik. Er ist sozusagen der Punk unter den klassischen Musikern (und kommt mir jetzt bloß nicht mit Nigel Kennedy). Er ist der Grandmaster Flash des Kontrapunkts, der Aphex Twin der Harmonielehre und die logische Fortsetzung Johann Sebastian Bachs.

Aufgewachsen im ländlichen Kansas verlor er mit 16 Jahren beim Spiel mit einer Dynamitkapsel sein Augenlicht. Er lernte Violine, Viola, Piano, Orgel und Chorgesang und brachte sich Musik- und Harmonielehre autodidaktisch bei. 1943 ging er mit 27 Jahren nach New York City und verbrachte die nächsten 30 Jahre auf den Straßen Manhattans, auf denen er tagein tagaus seine kurzen Gedichte und selbst komponierte Musik verkaufte.

Er traf Igor Strawinski, Charlie Parker und Leonard Bernstein, spielte mit Charles Mingus und las mit Allen Ginsberg. Seine Ecke an der 6th Avenue/54th Street verließ er trotzdem nicht.

Seinen Künstlernamen Moondog übernahm er von seinem Blindenhund, der laut Hardin »mehr als jeder andere Hund, den ich kannte, den Mond anheulte«. Beeindruckt von dem literarischen Werk »Edda« verkleidete er sich irgendwann als Wikinger und wurde zur festen Institution von Manhattan, die nicht nur in Reiseführern angepriesen wurde, sondern an der sich sogar das Hilton Hotel bei seiner Adressangabe orientierte (»gegenüber von Moondog«).

Ganz nebenbei ging er in den 1940er Jahren in der Carnegie Hall ein und aus und nahm 1957 mit Julie Andrews und Martyn Green eine Schallplatte mit Kinderliedern auf. Er traf Igor Strawinski, Charlie Parker und Leonard Bernstein, spielte mit Charles Mingus und las mit Allen Ginsberg. Seine Ecke an der 6th Avenue/54th Street verließ er trotzdem nicht.

Die Avantgarde des Kontrapunkts
Als 1969 sein bereits fünftes Album »Moondog« erschien, war Minimal Music zwar schon seit einigen Jahren auf der Landkarte verzeichnet. Louis Thomas Hardin etablierte auf seinem mittlerweile fünften Album jedoch einen neuen Sound, der später auch Steve Reich und am nachhaltigsten Philip Glass beeinflussen sollte. Im Gegensatz zu den damals bekanntesten Minimal Music-Vertretern Steve Reich, La Monte Young und Terry Riley basierte die Musik von Moondog weder auf dem Phasing, noch auf komplexen Stimmungssystemen oder mikroskopischen Pattern. Moondog lehnte auch jede Form von elektronischer Musik ab. Er selbst sah sich sogar als reiner Klassizist, der den strikten Kontrapunktansatz eines Johann Sebastian Bach zur einzig wahren Musikwahrheit erhob – also der hochharmonischen Komposition aus Stimmen, Gegenstimmen und Begleitstimmen. In diesem Ansatz ähnelte er zwar Terry Riley, der ebenfalls mit polyphonen Strukturen arbeitete. Die Kompositionen von Moondog blieben jedoch weitaus simpler, klarer und filigraner. Mit Sicherheit klangen sie nie atonal.

Moondog
Moondog
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Auf »Moondog« schichtete Louis Thomas Hardin in kurzen Skizzen Bläser über Streicher und bewegte sie in strikten Kontrapunkt-Konstellationen. Diesen klassizistischen Ansatz durchbrach er mit dem eigenen perkussiven Rhythmusspiel, das sich an indianischer Trommelmusik orientierte und eher mit den Zehen wippte, als tragend davon zu stapfen.

Die einzelnen Stimmen kommen so mit humorvoller Leichtigkeit ins Gespräch; sie flirten miteinander und fächern den Raum zu einem komplexen Geflecht auf. Wo Bachs Kompositionen mitunter schwer und tragisch wirken, tänzelt die unklassisch-klassische Musik von Moondog beschwingt durch die Kontrapunkt-Seile. Oder wie es John Zorn passenderweise zusammenfasste: »Ehrlich, fantasievoll, erlösend und gut gemacht – das sind die Attribute, die ich in Musik suche. Und er hatte alle vier davon«.