Records Revisited: Miles Davis – Bitches Brew (1970)

30.03.2020
Raus aus dem Jazzkeller, rauf auf die Rockbühnen – mit »Bitches Brew« wurde Miles Davis zu »Electric Miles« und braute den psychedelischen Trunk für alle, die nicht wussten, dass sie Jazz geil finden.

Die Hippies sind noch voll auf ihrem Trip, als Miles Davis am 19.August 1969, einen Tag nach Ende des Woodstock-Festivals, ein anderes Süppchen für die Zukunft der Rock-Musik zusammenbraut. Im Columbia-Studio in New York City versammelt Davis ein Dutzend Musiker. »Die Richtigen«, wie Miles Davis in seiner Biographie sagt –, um den Jazz aus seinem Keller zu prügeln, ihn mit Funk und Rock eins überzuziehen und mit elektrischen Schlägen wieder auf die Beine zu hieven. »Bitches Brew« war ein »Picasso in Sound«, so John McLaughlin, einer von Davis’ Gitarristen. »Es hörte sich an wie die Zukunft«, erinnert sich sein Autobiograph Quincy Troupe. »Bitches Brew« war das Album, das Jazz cool machte, nachdem Miles Davis Cool Jazz erfunden hat. Ein Monolith, ein Psychedelikum, ein Ikonoklast der säkularen Jazz-Religion.

Miles Davis ist 1969 nicht irgendwer. Die Purist_innen lieben ihn für seinen modalen Jazz, die Hochglanzmagazine für seine Exzentrik – er cruist im Ferrari durch Manhattan, liebt schöne Frauen und hasst sein Publikum – bleibt aber ein undurchschaubarer Mann, der seine Persona unter italienischen Anzügen und verspiegelten Sonnenbrillen verhüllt. Immer wieder kämpft er gegen innere Dämonen. Heroin hat er hinter sich, das Koks rieselt weiter, Schmerztabletten schluckt Davis täglich.

Nachdem sein Freund John Coltrane 1967 gestorben war, leidet er an Depressionen. 1968 stürzt er sich in eine Ehe, die zwar nur wenige Monate, aber gerade lange genug hält, dass Betty Mabry ihn mit dem Sound der US-amerikanischen Hippie-Bewegung vertraut macht. Er hört Jimi Hendrix, sieht wie er seine Gitarre abfackelt – und will den weirden Typen aus dem Greenwich Village kennenlernen.

Rockmusiker wissen nichts über Musik, Miles schon

Es ist der Moment einer Veränderung in Davis’ Leben. Er registriert den Einfluss, den die Rockmusik auf eine Generation an jungen Menschen hat. »Wir spielten zu dieser Zeit oft in halbleeren Jazzclubs«, sagt Davis in seiner Autobiographie. »Mir wurde klar, dass die meisten Rockmusiker nichts über Musik wussten. Wenn sie all diese Platten verkaufen können, ohne zu wissen, was sie wirklich tun, könnte ich das auch – nur besser.« Davis jammt mit Hendrix, nimmt Acid mit Sly Stone und rekrutiert Musiker aus Stevie Wonders Band.

Seine Maßanzüge wirft er in den Müll, der neue Miles hängt sich Ketten um den Hals, steckt sich Klunker an die Finger und trägt Farben, bei denen man keine Drogen nehmen musste, um den Psychedelic-Vibe der Sixties aufzusaugen. Anfang 1969 geht Miles Davis ins Studio, um »In A Silent Way« aufzunehmen. Ein Album, das erahnen lässt, in welche Richtung sich Davis weiterentwickeln würde. Zwei Schlagzeuge und elektrische Gitarren stellen die Bebop-Konvention auf den Kopf. Mit Joe Zawinul und Chick Corea beackern zwei der besten Pianisten ihrer Zeit das Fender Rhodes. Herbie Hancock mischt genauso wie Tony Williams und Wayne Shorter mit.

»Wenn ich etwas in der Musik hörte, von dem ich dachte, es könnte erweitert werden, gab ich Anweisungen. Die Aufnahme war eine Entwicklung des kreativen Prozesses, eine lebendige Komposition.«

Miles Davis

Miles Davis versammelt das Bayern München der Jazz-Musiker im Studio; allesamt Hochkaräter, die nicht nur wissen, was sie wollen, sondern auch die offene Herangehensweise von Davis antizipieren können. Als die Recording Sessions für »Bitches Brew« anstehen, erweitert Davis sein Ensemble. Drei Schlagzeuge, drei Fender Rhodes, drei Bassisten und ein halbes Dutzend Perkussionisten, die seine Musik um afrikanische und indische Einflüsse erweitern, sollen Jazz mit Rock verheiraten. »Miles war sich nicht sicher, was er wollte«, erinnert sich Gitarrist John McLaughlin. »Aber er wusste, was er nicht wollte. Er wollte nichts von dem, was er davor gemacht hatte.«

Davis hat Akkordabfolgen im Kopf, die er in einem Diner auf Servietten kritzelt, gibt den Musikern aber keine fertigen Noten. Er leitet das Ensemble wie ein Dirigent, der selbst keine genaue Vorstellung hat, wie sich die Session entwickeln würde. »Wenn ich etwas in der Musik hörte, von dem ich dachte, es könnte erweitert werden, gab ich Anweisungen«, sagt Davis in seiner Biographie. »Die Aufnahme war eine Entwicklung des kreativen Prozesses, eine lebendige Komposition.«

Die Freiheit der Ekstase

Die Tape-Maschine läuft in den dreitägigen Aufnahmen durch. Produzent Teo Macero, den Davis-Biograph Quincy Troupe in seiner Arbeit mit der von George Martin für die Beatles vergleicht, drückt den Record-Knopf, sobald Davis einen Schritt ins Studio setzt. Immer dann, wenn eine amorphe Masse aus über einem Dutzend Instrumenten zu einer kollektiven Identität zusammenwächst, die sich ergänzt, entgrenzt, abstoßt und wieder anzieht.

»Bitches Brew«, der Titel der Platte, kann metaphorisch für das Ensemble gelesen werden, bei dem die »Bitches« – Miles und sein Ensemble – etwas zusammenbrauen, das die Freiheit der Improvisation feiert, der Individualität aber genauso viel Platz einräumt wie der absoluten Ekstase, die sich in einem Spiel aus Zerstreuung und Verdichtung hochkurbelt – auch wenn das Ergebnis im Akt seiner Entstehung keine endgültigen Formen annimmt. »Wir haben während den Recording Sessions wenig miteinander gesprochen«, sagt Macero. »Ich habe nach den Aufnahmen Wochen im Studio verbracht, die Bänder angehört und begonnen, das Material zusammenzusetzen.«

Macero schnippelt an den Aufnahmen herum, loopt da einen Drum-Part, kürzt dort ein Solo. Hören kann man das vor allem auf dem Titelstück »Bitches Brew«, das über den Zeitraum von 27 Minuten unzählige Male hochkocht, den Deckel anhebt, um den Druck rauszulassen, bevor es aus verschmierten Solos wieder zu köcheln beginnt. Auf »Pharaoh’s Dance« schnippelte Teo Macero ebenso herum wie auf »John McLaughlin«, das in seinen viereinhalb Minuten Spielzeit die Essenz des Albums aufgreift: improvisierte Ausführung, ausgeführte Improvisation. Damit eröffnete die Platte ein unbekanntes Paradigma im Jazz.

Joe Zawinul war von den »Bitches Brew«-Sessions so verblüfft, dass er das fertige Album nicht erkannte. »Ich fand die Aufnahme damals gar nicht spannend. Aber kurze Zeit später war ich in den Büros von Columbia und eine Sekretärin spielte diese unglaubliche Musik. Also fragte ich sie: ›Wer zum Teufel ist das?‹. Und sie antwortete: ›Es ist das ›Bitches Brew‹-Ding von Miles Davis. Ich dachte, verdammt, ist das großartig.«