Aigners Inventur – Mai & Juni 2021

06.05.2021
Die eine Konstante in der Ära von Impfneid, Merzismus und Notbremsenbeef: Aigners Inventur fühlt sich vier Minuten vor Beginn der Ausgangssperre verwegen, hält sich für den Nabel der Deutschrapwelt und kopiert sich nur selbst.
Armand Hammer & The Alchemist
Haram
Backwoodz • 2021 • ab 47.99€
Es bleibt die eine Konstante in der Ära von Impfneid, Merzismus und Notbremsenbeef: Einmal pro Quartal droppt ein aus der Zeit gefallenes und trotzdem kontemporär klingendes Alchemist Album, es ist in drei Minuten ausverkauft und die darauf Rappenden krönen damit einen mehrjährigen Run. Dieses Mal hat Alchemist mit Armand Hammer gearbeitet, jener New Yorker Post Bap-Phalanx, mit der sich Billy Woods in den zweiten Karrierefrühling gerettet hat. »Haram« ist gewohnt trockenes Loop-Bizness, immer mindestens acht Spuren entfernt von der Überfrachtung und trotzdem hymnisch af. Ein Rapalbum also mit dem man sich vier Minuten vor Beginn der Ausgangsperre also prima verwegen fühlen kann.

Benny The Butcher
Burden Of Proof
Empire / Griselda • 2021 • ab 21.99€
Benny The Butcher bleibt der Notar im sich langsam auflösenden Griselda-Camp. Ostküstenklassizismus trifft auf Blueprint-Bombast und »Port Of Miami« Glam, vorgerappt wie der Dude der damals schon zu abgeklärt gewesen wäre für die Rawkus Cypher. »Burden Of Proof« ist in seiner Genügsamkeit dann zwar medioker, in seiner Konstanz aber auch unfrontbar.

Haftbefehl
Das Schwarze Album White & Black Marbled Vinyl Edition
Urban • 2021 • ab 23.99€
Spätestens wenn man die ersten grauen Streifen im Bart bemerkt und Haftbefehl immer noch für den Nabel der Deutschrapwelt hält, sollte man seine eigene Frischheitslegitimation dringend überprüfen. »Das Schwarze Album« ist sicher für Menschen mit späterem Geburtsdatum und wissenderer Coolness läppsches Millenialzeug, eure graue Eminenz hier freut sich hier aber wieder über all das, was Hafti-Alben schon immer ausgemacht haben und vor allem Hafts Gesellenstück in Sachen Autotune- und Mumble-Hooks. Ich schlage jetzt noch einen der immer noch regelmäßig neu erscheinenden Feuilletonartikel über Haftbefehls linguistische Verdienste auf und fühle mich einfach nur abgeholt.

EVA808
Sultry Venom
Innamind • 2021 • ab 22.99€
Eva808 macht auch auf Albumlänge halfsteppigen 808-Trap mit diversen UK-Bass-Zitaten. »Sultry Venom« klingt dabei ein bisschen so wie Beatmakerzeug 2021 klingen könnte, sprich wie Hudson Mohawke nach einem Jahr Quarantäne. Man könnte das ein fokussiertes Album nennen und Eindimensionalität meinen, aber ich schwööööhöre: gäbe es noch Nachtclubs, würde man hier pointenmäßig fündig.

Scotch Rolex
Tewari
Nyege Nyege Tapes • 2021 • ab 24.99€
Wobei ich schon sagen muss: wenn es diese Nachtclubs wieder geben sollte, dann muss jemand auch die Chuzpe haben und sich eher bei »Tewari« bedienen, jenem Scotch Rolex Album, zu dem Cornils, Kunze und ich ohnehin schon genug assoziert haben

Maoupa Mazzocchetti
Uxy Dosing
Brothers From Different Mothers • 2021 • ab 21.99€
Auch vollkommen malle: Maoupa Mazzocchetti und »Uxy Dosing«. Ich liebe ja nach wie vor wenig mehr als unraffbare Experimentalplatten, die sich als Clubmusik tarnen, aber nichts weniger wollen als Leute glücklich zu sehen. Mazzocchetti löst dann auch jeden Rave-Signifier im Säurebad auf, ohne dabei je diese Deconstructed Pretense ins Schaufenster zu hängen. Wenn der Belgier dann ein schnaubendes Album mit dem unerschrocken Lynchianischen »Guido Always Wins In the End« scheinbeendet, um einem dann auf dem Closer »Uxytalking App« nochmal die Breakbeat-Koordinaten grundlegend durcheinander zu bringen, ist die Begeisterung mindestens so groß wie die Verunsicherung.

Senyawa
Alkisah
Les Album Claus • 2021 • ab 18.99€
Ich glaube ich bin noch drei Alben davon entfernt, mich für Metal zu interessieren. Was ich auf dem Scotch Rolex-Album schon alles nicht wusste, setzt sich auf »Alkisah« fort, nur freilich mit anderen Mitteln. Uncanny wie sau und – so sagen das Menschen, die es besser wissen – mit mehr als einem latenten Metaleinfluss, weh-te-effen sich die Indonesier durch rhytmisch zersetzten Postpunk mit On-U-Patent, inklusive irritierend faszinierendem Überpacing des Vokalisten Rully Shabara.

Carl Stone
Stolen Car
Unseen Worlds • 2021 • ab 33.99€
Auch verrückt wie Carl Stone seit vierzig Jahren Musik macht, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens überhaupt keinen Sinn ergibt. Natürlich ist das quasi die Definition von Avantgarde, aber mal ehrlich: wie oft hat man wirklich noch das Gefühl, dass da etwas passiert, was genuin verstört? »Stolen Car« habe ich dreimal versucht durchzuhören, ich kam nie weiter als zwei oder drei Songs und trotzdem fühlt sich das alles so richtig an wie präadoleszent einfach mal einen Schluck aus der Pulle Strohrum zu testen um dazuzulernen.

Andy Stott
Never The Right Time
Modern Love • 2021 • ab 30.99€
Andy Stott hat sein letztes wirklich herausforderndes Album vor knapp zehn Jahren gemacht, seither perfektioniert Modern Loves einziger Halbpopstar seine Formel. »Never The Right Time« klingt dann auch wie ein Best Of seiner vier vorherigen Alben, insbesondere auf den wieder zahlreichen Kollaborationen mit Alison Skidmore. Dass Andy Stott sich dabei nur selbst kopiert, ist nicht nur kein Problem, sondern der Beweis, dass sonst niemand dieser Soundästhetik gerecht wird, außer Stott selbst.

Jimmy Edgar
Cheetah Bend
Innovative Leisure • 2021 • ab 30.99€
Jimmy Edgars grelles Pop-Verständnis wurde in den letzten zehn Jahren nicht nur vom PC Music-Sound überschattet, sondern nun auf »Cheetah Band« recht eindeutig auch davon vereinnahmt, eine Zusammenarbeit mit der laten greaten SOPHIE inklusive. Dazu überdrehte Danny Brown-Features und jede Menge post-postmoderner Quatsch. Ballert, kommt aber ein paar Jahre zu spät.

Claire Rousay
A Softer Focus
American Dreams • 2021 • ab 23.99€
Im Vergleich zu den letzten Inventuren gab es dieses Mal weniger prägende stille Alben für mich. Claire Rousay hat jedoch ein Album gemacht, das diese immer noch unwirkliche Halb-Lockdown-Realität in zehn Jahren perfekt auf den Punkt gebracht haben wird. Ambient und Field Recordings, »Can’t Hold My Liquor« Techniken und Tastenanschläge im Home Office, dazwischen maximal randome Sprachnachrichten über verpasste Bahnanschlüsse: »A Softer Focus« ist Nicht-Ambiente und damit vielleicht die definitive Ambient-Platte des Jahres bisher.

Dialect
Under-Between
Rvng Intl. • 2021 • ab 26.99€
Dagegen wirkt »Under-Between« von Dialect fast ein bisschen altbacken in seiner vaporwavigen Interpretation von Ambient und der familiären japanischen Klangpalette. Eher im unteren Mittelfeld im dichten Release-Schedule von RVNG Intl anzusiedeln, aber halt eigentlich schon auch krass souverän.

Gianni Brezzo
Traditional Heart
Into The Light • 2021 • ab 19.99€
Praktisch vor der eigenen Haustür und trotzdem bisher verpasst: der Kölner Marvin Horsch macht als Gianni Brezzo genau jene geil rumlungernde, tentativ perkussive Mood-Musik, die von Music From Memory bis Islands Of The Gods auf jedes Label passt, das checkt in welche Soundtradition sich ein solches leises Album einordnen muss um nicht als gefälliges Hintergrundrauschen verkannt zu werden. »Traditional Heart« erscheint über Into The Light und wird genau deswegen auch die richtigen Leute erreichen.

The Zenmenn
Enter The Zenmenn
Music From Memory • 2021 • ab 26.99€
Auch nett: The Zenmenn und deren von Haruomi Hosono beeinflusster Rotary Mixer Pop. Wir hatten es ja gerade schon von Music From Memory und dass »Enter The Zenmenn« nicht nur dort erscheint, sondern in den besseren Momenten klingt wie ein ausgebuddeltes Album von The System, sollte dann auch der Ritterschlag für diese LP sein.

V.A.
Zauberstab Volume 1
Lio Press • 2021 • ab 29.99€
»Zauberstab« wäre 2018 eine der Compilations des Jahres gewesen, drei Jahre später wirkt sie mit ihrem betont analogen, sich seltenst über Midtempo hinauswagenden Camp Cosmic Sound wie ein willkommener Reminder an die zwei Jahre, in denen alle ein Stück vom Düsseldorfer Kuchen abhaben wollten. Patchouli Dub aus der MPC und 90BPM Prog, Shoegaze Melodien und handgemachte Percussion: Was soll man dagegen bitte haben?

Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra
Promises Black Vinyl Edition
Luaka Bop • 2021 • ab 26.99€
Das drittbeste an der neuen Floating Points Platte ist, dass sie nicht wie eine Floating Points-Platte klingt. Das zweitbeste an der neuen Floating Points-Platte ist, dass sie nicht wie eine Platte des London Symphony Orchestra klingt. Das beste an der neuen Floating Points Platte ist, dass sie durchgehend wie eine klassische Pharoah Sanders Platte klingt. Zurückhaltend und balladesk, komplett ohne Muckerallüren und stellenweise das, was ein Jazzonkel wohl mesmerizing nennen würde. Und um im Ranking-Wahnsinn zu bleiben: zweitbestes Pharoah Sanders-Erlebnis in diesem Millenium, nach dessen Konzert bei Leguesswho 2018.

Jac Berrocal, David Fenech, Vincent Epplay
Exterior Lux
Akuphone • 2021 • ab 20.99€
Die Schallplatte des Jahres kommt aber bisher von Jacques Berrocal, auch wenn »Exteriour Lux« digital bereits im Herbst 2020 erschienen ist. Berrocals Trompete wäre ohnehin an 5 von 7 Tagen meine Antwort darauf, was mein Lieblingston auf der Welt ist. Wie er hier aber in die Zwischenräume, die Vincent Epplay und David Fenech schaffen, trötet und das ohnehin schon schwindelerregend hohe Niveau endgültig unantastbar macht, ist schlicht unglaublich. Dazu mit »Walkabout« noch das beste Vega / Pan Sonic Faksimile ever, ein eisigkalter Tolouse Low Trax Opener, Free Jazz Dub und polyrhythmischer Malaria Bop: dieses Album hat die Welt gerettet.