Jahresrückblick 2017 – Top 20 Compilations

01.12.2017
Wenn man rein den materiellen Wert der einzelnen hier versammelten Stücke zusammenzählen würde, käme man auf ein Vermögen. Aber das ist nur der oberflächlichste Grund, warum die folgenden Comps essentieller Stuff sind.
Du wirst ein neuer Mensch sein, nachdem du dich durch die folgende Liste durchgehört hast. 20 Compilations. Unfassbar viel Musik, die Liebhaber von den staubigsten Dachböden, aus den modrigsten Kisten gezogen, aus den letzten Winkeln gegraben haben. Wer sich das hier alles anhört, reist nicht nur durch die Genres, sondern durch verschiedene state of minds, Arten zu tanzen, Arten zu leben und natürlich die süße, liebe Zeit. Vom Wichskino im San Francisco der 80er bis in Dschungel, die sich nur ausgedacht wurden: far out, gaga, das ist bewusstseinserweiterndes Material hier, folks!


V.A.
Abstracte - Barcelona Avantgarde & Industrial 1981-1986
Domestica • 2017 • ab 17.84€
Natürlich war 2017 auch das Jahr, in denen den Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens eine neue Dringlichkeit gegeben wurde. Und wer will, darf »Abstracte – Barcelona Avantgarde & Industrial 1981-1986« als Zeugnis kultureller Identität dieser Region lesen. Wer nicht will, wirft einen ethnologischen Blick darauf und sieht, dass eben auch in dieser Region sehr eigene, sehr gute Musik entsteht. Punkt. Schon das allererste Stück legt davon Zeugnis ab, denn »Ball del Patacao Monoton« von Pascal Comelade ist vielleicht überhaupt mit das Beste, dass du in diesem Jahr auf Schallplatte hören kannst. Und das zieht sich bis zum Ende, »Frigolin« von Victor Nulda, zu dem auch hier noch etwas gesagt wurde. Sebastian Hinz

V.A.
A Weird State Of Experimental Experience
Kasual Plastik • 2017 • ab 18.99€
Diese Compilation kam mit der Haptik einer Strandmatte und entzog sich sonst jedem Griff. »A Weird State Of Experimental Experience« ist als Titel ja schon ein ganz schönes Versprechen. Dass dieses eingehalten wird, sollte schon Erklärung genug sein, warum diese Zusammenstellung zu unseren Favoriten dieses Jahres gehört. Das Label Kashual Plastik übrigens solltest du auch für das nächste Jahr auf dem Schirm haben. Philipp Kunze

V.A.
Doing It In Lagos: Boogie, Pop & Disco in 1980’s Nigeria
Soundway • 2016 • ab 29.99€
Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass “»Doing It In Lagos: Boogie, Pop & Disco in 1980’s Nigeria«](https://www.hhv-mag.com/de/review/9127/various-artists-doing-it-in-lagos) schon Ende Dezember 2016 erschienen ist. Denn Soundway Records zeigt hier nicht nur einmal mehr, wie hochwertige Releases in Zeiten der Vinyl-Schwämme aussehen können, sondern geht auch für eigene Verhältnisse neue Wege. Denn die Compilation blickt erstmals auf die 1980er Jahre und beleuchtet die nigerianischen Bands dieser Zeit. Der Titel ist dabei zwar leicht irreführend, denn die meisten Bands haben damals, um international konkurrenzfähig zu sein, ihre Musik in London aufgenommen und nicht in Lagos – doch davon abgesehen, bietet die Auswahl einen schönen Überblick über die einst florierende Szene der nigerianischen Hauptstadt. Sebastian Hinz

Daniele Ciullini
Domestic Exile: Collected Works 82-86 Colored Vinyl Edition
Ecstatic • 2017 • ab 21.99€
Eine Kassette aus dem Jahre 1983 und ein paar weitere Aufnahmen dieser Jahre bilden die Grundlage für »Domestic Exile: Collected Works 82-86« von [Daniele Ciullini](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/5463/daniele-ciullini.) Zusammengestellt und neu gemastert von Not Waving und überhaupt erstmals auf Schallplatte zu hören. Die Aufnahmen sind Zeugnis aus einer Zeit, als die Buchstaben DIY noch das programmatische Versprechen von Selbsterfüllung selbst erfüllten, in der das Scheitern noch Teil des Plans war und der Wille zur Abgrenzung kleinster gemeinsamer Nenner. Sebastian Hinz

Gabriele Poso
The Languages Of Tambores - A Spiritual Journey Through The Cultural Heritage Of Drums
BBE Music • 2017 • ab 21.99€
»The Languages Of Tambores – A Spiritual Journey Through The Cultural Heritage Of Drums«. Manchmal gibt ein Titel mehr Aufschluss als tausend Worte. Auch, weil er gefühlt aus genauso vielen Worten besteht. Jedenfalls huldigt Gabriele Paso hier perkussiven Instrumenten und hat dafür Songs gesammelt, die aus verschiedenen Genres und Kontinenten kommt. Irgendwo zwischen arg awimboweh-igen Dschungelbuchmomenten und ätherischer Trommelkatharsis. Philipp Kunze

Jan Van Den Broeke
11000 Dreams
Stroom • 2017 • ab 23.99€
STROOM war locker eines der Labels des Jahres. Wären wir Gutmenschen hier nicht so krass für Diversität, wären wahrscheinlich noch mehr als zwei Releases von Ziggy Devriendts Reissue-Label hier erschienen. Jan Van Den Broekes »11000 Dreams« ist eine Werkschau, in welcher der Belgier mal eben in Pantoffeln und ungeduscht New Age, Ambient und Synth-Pop abklappert während der Kaffee noch durchläuft. Wer vor dem Zähneputzen schon Humor hat, ist eh der Geilste. Philipp Kunze

V.A.
Danzas Electricas
Macadam Mambo • 2017 • ab 36.99€
Macadam Mambo hat nun auf unzähligen Platten bewiesen, wie viel unentdeckter Kram noch in den Untiefen des Netzes und der Plattenbörsen lauert. Diese Zusammenstellung des Gesamtkaders und neuer editierter Schätze ist so krachend aktuell und gewieft, dass man sich wünscht, die Tanzflächen wären schon überall soweit, zu diesen »Danzas Electricas« so abzugehen, wie ich es meist möchte. Aber die Platte ist auch ein Versprechen: Es wird besser werden, der Stumpfsinn wird verlieren und Qualität setzt sich durch. Wartet nur ab. Lars Fleischmann

V.A.
Welcome To Paradise: Italian Dream House 89-93 Volume 1
Safe Trip • 2017 • ab 27.99€
Flächige Synthesizer, Dschungelgeräusche, eingängige Klavierakkorde. Mit italienischem House aus den frühen 90ern ist es wie mit italienischem Prog, italienischer Library oder gutem italienischem Essen: Man findet es nicht an jeder Ecke und billig ist es dann auch nicht. Gerade deshalb ist »Italian Dream House Volume 1« so eine bemerkenswerte Compilation. Nicht nur, weil sie dem paradiesischen balearischen House ein Denkmal setzt, sondern weil sie die offensichtlichen Hype-12"s zugunsten obskurer Juwelen links liegen lässt. Niklas Fucks

Jan Schulte AKA Wolf Müller presents
Tropical Drums Of Deutschland
Music For Dreams • 2017 • ab 28.99€
Wer noch nichts über die Platte weiß, sollte sich unser Track by Track durchlesen. Jan Schulte erklärt dort ziemlich genau, was in bei dieser Zusammenstellung gereizt hat. Diesen Enthusiasmus für die Sache der »Tropical Drums of Deutschland« kann man nicht nur bei seinen DJ-Sets hören, sondern auch auf dieser Compilation, die nicht bei 08/15 anfängt, sondern eigene Klangwelten aufzeigt und mitgestaltet. Wer sich entführen lässt, droht nie wieder aus dem Dschungel zurück zu finden. Lars Fleischmann

V.A.
Lovin' Mighty Fire - Nippon Funk, Soul, Disco 1973-1983 Black Vinyl Edition
BGP • 2016 • ab 31.99€
Ganze drei Compilations widmeten sich in diesem Jahr der japanischen Traditionslinie von cutesy Partymusikderivaten, die beste kam aber natürlich von Japan Blues und nahm einen Zeitraum von lediglich sechs Jahren in den Fokus. »Lovin’ Mighty Fire – Nippon Funk, Soul, Disco 1973-1983« rettet jede vermurkste Kneipenplaylist und wuchtet komplett vergessene Hits wie Yasuko Agawas Disco-Soul-Smasher »Why Don’t You Move In With Me« wieder ins Rampenlicht. Essentiell nicht nur für Japo-Nerds. Kristoffer Cornils

V.A.
Mr Bongo Record Club Volume 2
Mr Bongo • 2017 • ab 22.99€
Mr Bongo ist ein Gütesiegel, auf das sich treue Fans verlassen können. Das ist mit großer Sicherheit einer der tristesten Sätze, die je geschrieben wurden – aber er stimmt halt. Der »Mr Bongo Record Club Volume 2« versammelt Disco und Soul, alles geschmiert und gewienert bis in den letzten Winkel. Wer gute Laune hat, bekommt hier noch bessere. Jeder einzelne Song hierauf hat das Potential, gut aussehende Menschen auf Open Air-Festivals an instagrammabelen Orten dazu zu bringen, rhythmisch zu stampfen und in die Hände zu klatschen. Philipp Kunze

NSRD
The Workshop For The Restoration Of Unfelt Feelings
Stroom • 2017 • ab 23.99€
In den 1980er Jahren arbeitete das lettische Underground-Multimedia-Künstler-Kollektiv NSRD nicht nur an Aktions- und bildender Kunst, Dichtung sowie der Verbreitung alternativer Literatur, sondern war auch musikalisch sehr aktiv. »The Workshop For The Restoration Of Unfelt Feelings« versammelt ein knappes Dutzend minimaler, hoch eigenständiger und äußerst atmosphärischer Tracks der Band zwischen rudimentärem Synth-Pop, archaischer Perkussion und gefühlvoll unverbildetem Gesang. Andreas Brüning

V.A.
Outro Tempo: Electronic And Contemporary Music From Brazil 1978-1992
Music From Memory • 2017 • ab 33.99€
Man kann sich »Outro Tempo« über die Hits nähern (Andrea Daltro, Maria Rita), über die Aussicht, doch irgendwann diesen Higher State Of Consciousness zu finden (Priscilla Ermel, Fernando Falcao) oder den absurden Median-Wert (alle). Egal wie: das Real Madrid im Comp-Game 2017. Florian Aigner

Patrick Cowley
Afternooners
Dark Entries • 2017 • ab 27.99€
Wie komplett irrsinnig es doch eigentlich ist, dass rund 40 Jahre später die Musik aus schmierigen B-Movie-Wichsstreifen wie ein erlösender Sommerplatzregen aufgenommen wird. Irgendwie aber hat Patrick Cowley es auch verdient. Klar, seine Sylvester-Produktionen, der Donna Summer-Remix und »Menergy« waren an sich schon große Hits, die angenehm weirde Seite der San Fran-Legende wird aber erst mit monumentalen Sammlungen wie »Afternooners« korrekt gewürdigt. In jeder Hinsicht geil. Kristoffer Cornils

V.A.
Q/R
Melodies Souterraines • 2017 • ab 17.99€
Die Compilation »Q/R« ist von vorne bis hinten ein Rätsel. Schon der erste Track, eine obskure niederländische New Wave-Kassette, ist auf jeder Pressung bis zur Ungenießbarkeit zerkratzt. Er und einige weitere Titel erscheinen nicht einmal auf der Tracklist, die mit experimentell wavigen, zwischen 1982 und 2017 komponierten Stücken selten zusammengewürfelt wirkt. Bis man auf Play drückt und die Gondelfahrt auf dem Styx beginnt. Niklas Fucks

V.A.
Sammlung Elektronische Kassettenmusik Düsseldorf 1982-1989
Bureau B • 2017 • ab 27.99€
Deutsch und aus den 1980er Jahren, das war 2017 sowieso schon sexy. Die Frage nach dem Warum wäre ein Essay wert. Egal. Die »Sammlung. Elektronische Kassettenmusik Düsseldorf 1982-1989« macht es sich in den offenen Armen des derzeit hippen Allgemeingeschmacks alles andere als einfach gemütlich. Das Hamburger Label Bureau B hat hier eine Compilation zusammengestellt, die so kratzbürstig ist, dass ihr Ziel unmöglich gewesen sein kann, in irgendwelche Ärsche zu kriechen. Man will immer gerade »aaah« sagen, da macht ein Track wieder ganz doll »bleeep« und stößt einem vor den Kopf. Philipp Kunze

V.A.
Soul Of A Nation: Afro-Centric Visions In The Age Of Black Power - Underground Jazz, Street Funk & The Roots Of Rap 1968-79
Soul Jazz • 2017 • ab 28.99€
Black Power hat sich längst noch nicht erledigt. Soul Jazz haben gut daran getan, mit der Compilation Soul of A Nation: »Afro-Centric Visions in the Age of Black Power« musikalisch an diesen wieder höchst aktuellen Missstand zu erinnern. Mit viel Funk als Protest, von Roy Ayers, Phil Ranelin oder “Gil Scott-Heron zudem Hymnen an Malcolm X oder Spoken-Word-Proto-Rap von Sarah Webster Fabio. Auch Jazz ist dabei, etwa vom souverän-gelassenen Joe Henderson. Wobei die runde Zusammenstellung keinesfalls verdeckt, dass hier mitunter viel Wut am Werk ist. Zu recht. Tim Caspar Boehme

Spiritual Jazz
Volume 7: Islam - Esoteric, Modal And Progressive Jazz Inspired By Islam 1957-1988
Jazzman • 2017 • ab 22.99€
So wünscht man sich das: Auf der »Spiritual Jazz 7 wurde nicht zusammengeknallt, was gerade lizenzfrei rumlag, sondern minutiös geplant und eine Geschichte erzählt. In diesem Fall die Entstehung der islamischen afro-amerikanischen Communities in den USA und ihre nunmehr 60 Jahre alte Tradition. Dazu kommen ganz hinreißend schlaue Liner-Notes. Wer nochmal verstehen will, warum NFL-Sportler während der Hymne knien, kann zum Beispiel hier reinschauen. Das ist erstaunlich wertvoll und selten auf dem hitzigen Plattenmarkt. Lars Fleischmann

V.A.
Terra Incognita
Emotional Rescue • 2016 • ab 17.99€
Denis Mpunga & Paul K, Zazou-Bikaye und Paul Gesserit – schon irre, dass die Namen auf dieser obskuren zweiteiligen Compilation heutzutage vermutlich weitaus mehr Begeisterung hervorrufen als während der achtziger Jahre, deren Geistes Kind auch »Terra Incognita« ist. Als Antwort auf Laurie Andersons »Big Science« konzipiert, präsentiert diese erstmals als gebündelte Selektion erhältliche Doppel-Compilation noch schrägere Musik, als sie auf dem Original zu hören war. Noch heute die Tür in eine unbekannte musikalische Welt. Kristoffer Cornils