Ambient-Musik macht die Welt nicht besser. Und doch wird häufig zu ihr gegriffen, um die Realität zumindest ein bisschen erträglicher zu machen. Wo sich der Lauf der Dinge beschleunigt und immer lauter wird, verspricht Ambient ein Gegengewicht darzustellen. Es liegt eine gewisse Ironie darin: Leise Musik wird lauter geschaltet, um den Lärm der Welt zu übertönen. Schon Erik Saties für das Genre so vorbildliche »Musique d’ameublement« hatte vor allem den Zweck, andere Geräusche auszublenden. Das ist eine Funktion, die Ambient weiterhin erfüllt: sie simuliert etwas, das eigentlich nicht da ist, und überschreibt damit das Vorhandene. Ambient ist somit hyperreale Musik im Sinne Jean Baudrillards. Der Philosoph lieh sich in seinem maßgeblichen Werk »Simulacres et Simulation« von 1981 eine Metapher des Schriftstellers Jorge Luis Borges, um den Begriff der Simulation zu erklären: In »Von der Strenge der Wissenschaft« ist von einer im Maßstab 1:1 angelegten Landkarte die Rede, die das Gebiet, welches sie verzeichnet, komplett überdeckt. Saties Möbelmusik verhält sich zum Sound der Realität wie die Landkarte zur Welt: Sie ist eine hyperreale Täuschung, hinter der das Reale verschwindet.
Auf Möbelmusik folgte Muzak. Die industrielle Gebrauchsmusik sollte die Produktivität von Fabrikarbeiter*innen beschleunigen: Nach der Simulation die Stimulation. Muzak ist mittlerweile auch als »Fahrstuhlmusik« bekannt, das farblose Gedudel, das Nicht-Orte wie Malls auskleidet und für ein angenehmes Shopping-Erlebnis sorgen soll. Auch Flughäfen gehören in die Kategorie der Nicht-Orte – auch wenn sie Inspiration für eine Form von Musik lieferten, die es anders machen wollte: Ambient, wie es Brian Eno im Jahr 1978 mit der Veröffentlichung von »Ambient 1: Music For Airports« definierte, grenzte sich von Simulations- und Stimulationsmusik ab. Statt die »akustischen und atmosphärischen Eigenheiten« einer Umgebung zu übertünchen, sollten diese »verbessert« beziehungsweise »verstärkt« (»enhanced«) werden. So weit, so unmöbliert. Doch wozu das Ganze? Um dem Publikum »Ruhe und Zeit zum Nachdenken« zu verschaffen: Stimulation. Und was ist eigentlich auf dem Cover von »Ambient 1« zu sehen? Eine Landkarte, zu der es in der realen Welt keine Entsprechung gibt – ein weiterer Nicht-Ort, genauer eine Simulation. Was »Ambient 1« bot und was Eno darunter verstanden haben wollte, widersprach so einander.
Als Simulations- und Stimulationsmusik wurde Ambient auch in Japan aufgenommen. Das Land war seit seiner Tour dort im Jahr 1962 besessen von einem Ambient-Vordenker, der sich in seinem Werk unter anderem mit der Unmöglichkeit von Stille auseinandersetzte: John Cage und seine Ideen fielen in der Avantgarde des Inselstaats auf fruchtbaren Boden, es kam zum sogenannten »John Cage Shock«. Nur ein Jahrzehnt weiter folgte der »Satie Boom«, in dessen Verlauf das Werk des Franzosen ab 1975 umfassend mit Konzerten und Neuinterpretationen gewürdigt wurde. Vielleicht kein Zufall, dass dermaßen stille Musik gerade in dem Moment eine Konjunktur erlebte, als es die japanische Wirtschaft ebenfalls tat: Ab Ende der siebziger Jahre kam es zu einem ökonomischen Aufschwung, der eng an den technologischen Fortschritt des Landes gekoppelt war. Bis der Höhepunkt der sogenannten »baburu keiki«, der »bubble economy« zwischen etwa 1985 und 1990 erreicht war, ging es in Japan höher, schneller, weiter – und auch immer lauter. Kein Wunder, dass auch Brian Enos hyperreale Flughafenmusik dementsprechend mit offenen Armen begrüßt wurde.
Dort wurde Ambient als »kankyō ongaku« bezeichnet. Der Begriff wurde 1966 für eine japanische Form von Muzak geprägt, die ein Jahrzehnt zuvor aus den USA importiert wurde und denselben Zweck erfüllte wie dort: Simulation und Stimulation. Bald wurde der Begriff aber von einer neuen Bewegung umgedeutet und von »Background Music« oder »BGM«, wie es später auch beim Yellow Magic Orchestra hieß, unterschieden. In einem ebenfalls 1966 veröffentlichten Statement der Gruppe Environment Society zu einer Ausstellung hieß es, dass »kankyō geijutsu«, »Umweltkunst«, Werke umfasse, die »nicht autonom und an sich vollständig, aber der äußeren Welt gegenüber offen sind und somit ihre Zuschauer*innen in ihre Umwelt miteinbeziehen.« Ein Versprechen, das Brian Enos Ambient-Begriff vorgreift: Die Welt soll durch Umweltkunst kankyō geijutsu und kankyō ongaku für das Publikum »enhanced« werden.
Wo andere Ambient-Musik versuchte, mit ihren Landkarten die reale Welt zu verdecken, klingt »Green« stattdessen überhaupt nicht nach plätschernder Möbelmusik für Flughäfen und andere Nicht-Orte.
Einer der japanischen kankyō-ongaku-Meister überhaupt wurde erst in den vergangenen Jahren wieder neu entdeckt. Spencer Doran vom US-amerikanischen Duo Visible Cloaks versuchte bereits seit Anfang der Zehnerjahre, die Welt mit japanischer Ambient-Musik und im Speziellen dem Werk von Hiroshi Yoshimura vertraut zu machen. Den Job erledigte aber jemand anderes umso effizienter: Dank den mysteriösen Windungen des Empfehlungsalgorithmus von YouTube wurden ab circa 2016 diverse Uploads von Yoshimura-Alben wie »Soundscape 1: Surround« oder »Green« wieder und wieder in die Sidebars von Musik-Fans geschaufelt. Wie auch die Musik von Yasuaki Shimizu oder Midori Takada sprang bald die Reissue-Industrie auf das so geweckte Interesse an Yoshimuras Musik an: Mit »Music For Nine Postcards« aus der gemeinsam mit Satoshi Ashikawa initiierten Serie »Wave Notation« sowie »Pier & Loft« wurden die beiden ersten Alben Yoshimuras aus den Jahren 1982 und 1983 neu aufgelegt
Yoshimura war bereits über 40, als er als Solo-Künstler debütierte. Zuvor gründete er die Computer-Musik-Gruppe Anonyme und war im Umfeld der legendären Improv-Band Taj Mahal Travellers um Takehisa Kosugi sowie als interdisziplinär arbeitender Künstler aktiv. Bei Anbruch des neuen Jahrzehnts schlug er aber einen gänzlich anderen Werdegang ein. Nachdem er im Jahr 1978 mit ersten Auftragsarbeiten für die japanische Rundfunkgesellschaft NHK auf sich aufmerksam machte, konzentrierte er sich in den folgenden Jahren zunehmend auf seine Veröffentlichungen, die bis Mitte der neunziger Jahre regelmäßig erscheinen. Hiroshi Yoshimura schwankte in seinen Produktionen wie viele andere Vertreter*innen der kankyō ongaku zwischen einem l‘art-pour-l‘art-Ansatz und kommerziellen Auftragsarbeiten, vertrat aber in beidem dieselbe Klangpoetologie: Ähnlich wie sein Freund Ashikawa, der die Musik der »Wave Notation«-Serie mit Objekten verglich und sich gleichermaßen auf Eric Satie wie Brian Eno bezog, ließ er sich von der Natur inspirieren, um mit hochtechnologischen Mitteln ihre Bewegungen nachzuahmen und sie wiederum in die Umwelt zu integrieren – um diese zu verbessern oder zu verstärken. Yoshimura hatte sich kurzum einer Simulationsmusik verschrieben.
Diese wurde dezidiert zur Stimulation verwendet. Als Yoshimura 1984 sein Album »A・I・R (Air In Resort)« veröffentlichte, tat er dies über das hauseigene Label der Kosmetikmarke Shiseido. Ein Marketing-Gag: Der Sleeve der LP wurde mit einem Duft parfümiert, der damit beworben werden sollte. Gemeinsam mit dem Titel der Platte ergibt sich allerdings eine beißende Ironie. So wie Parfüm daran erinnert, dass Luft als Medium doch nie nichts ist, so unterstrich diese Musik mittels Field Recordings und sanfter Instrumentierung, dass selbst die dadurch vermeintlich evozierte Stille immer schon künstlicher Lärm war. »A・I・R« bot Simulationsmusik und zugleich deren Subversion an.
Zwei Jahre später veröffentlichte Yoshimura zwei seiner bekanntesten Alben in nur einem Jahr. »Soundscape 1: Surround« oder »Green«. »Surround« wurde für eine durch das Unternehmen Misawa Home Corporation in Auftrag gegebene Serie geschrieben, die damit und mit dem Nachfolger – Yutaka Hiroses »Nova« – die begehbaren Modelle ihrer Fertighäuser beschallten. Künstliche Klangkulissen für hyperreale Häuser also. Bei »Green« handelte es sich dagegen schon eher um Kunst aus reinem Selbstzweck. Entstanden waren die acht Stücke im Winter 1985/1986 in Yoshimuras Studio in Tokyo, das zu dieser Zeit unter der Blasenkonjunktur brummte, an einem Yamaha DX7-Synthesizer – einem Gerät, das sonst für seinen artifiziellen Klang verschrien war.
Diese Künstlichkeit nahm sich Yoshimura als Ausgangsmaterial für ein Album, das dezidiert als Simulation verstanden werden sollte und genau deshalb weit mehr ist. Obwohl auf YouTube vor allem die für den nordamerikanischen und europäischen Markt produzierte Version von »Green« viral ging, bevorzugte Yoshimura selbst die japanische. Diese kam ohne die beigefügten Field Recordings wie Wassergeplätscher, Vogelgezwitscher und anderen klischeehaften, hyperrealen Naturklängen aus. Wenn Yoshimura etwas simulieren wollte, dann nicht etwas real existentes. Sondern das »angenehme Szenario des natürlichen Kreislaufes dessen, was als GREEN bekannt ist«, wie er selbst es in den Linernotes ausdrückt.
Was heißt das? Es heißt, dass »Green« von den wirbelnden Arpeggien des Eröffnungsstücks »Creek« angefangen über die zirkulären und tänzerisch anmutenden Strukturen von »Sheep« hin zu den sanft-jazzigen Tönen von »Street« und »Teevee« sein eigenes, hyperreales Grün bildet, statt nur das vor dem Fenster nachzuahmen und für einen anderen Kontext neu aufzubereiten. Anders als von der Environment Society gefordert kann »Green« autonom und an sich vollständig für sich stehen und erklingen. Wo andere Ambient-Musik versuchte, mit ihren Landkarten die reale Welt zu verdecken, nahm sich »Green« stattdessen die reine Abstraktion zur Ausgangslage und klingt dementsprechend in seiner intendierten Form überhaupt nicht nach plätschernder Möbelmusik für Flughäfen und andere Nicht-Orte.
Die Musik von Hiroshi Yoshimura findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/hiroshi-yoshimura-electronic-dance/i:A141797D2N93S14U9.)